Erster Festivaltag

Am Ende herrscht beim Maifeld-Derby Komfortrauschen

Von 
Jörg-Peter Klotz und Markus Mertens
Lesedauer: 
Das Post Metal-Projekt Alcest um Sänger Neige krönte ein starkes Abendprogramm am Premierentag im Hüttenzelt des Maifeld Derby. Bild: Markus Mertens © Markus Mertens

Der Auftakt des neunten Mannheimer Maifeld Derbys hat in zweifacher Hinsicht eine Tag- und eine Nachtseite – nur, dass sich Licht und Schatten anders verteilen als beim Tagesablauf: Das Indie-Popfestival am Reitstadion kommt am Freitagnachmittag zunächst etwas träge in Gang. Bei unangenehm schwüler Witterung tröpfeln die Besucher nach Öffnen der Tore um 15.30 Uhr eher, als dass sie sich drängen. Der Regen am späteren Nachmittag bringt zwar Erfrischung, hätte aber gern maßvoller ausfallen können.

Doch zur besten Sendezeit, als die Berliner Indierockerinnen Gurr sich open air auf der Fackelbühne mitreißend austoben, herrschen ideale Festivalbedingungen. Selbst um 2 Uhr herrscht rund um das neu gestaltete, deutlich größere Hüttenzelt (bis 2018 zuletzt eine für härtere Sounds reservierte Club-Bühne unter der Flagge der Brückenawardmacher) herrscht bei angenehmen 17, 18 Grad gelöste Stimmung bei den Electro-Fricklern von Komfortrauschen. Den kuscheligen Bandnamen kann man für den ersten Festivaltag wörtlich nehmen und als Fazit verwenden: Die ganz große Euphorie hat sich nach der offenbar kräftezehrenden Schwüle eher selten eingestellt, aber auch moderates Feiern macht den 4000 Zuschauern sichtlich Spaß, in den wenigen Musikpausen wird zwischen den vier Bühnen intensiv kommuniziert und die wie immer sehr gechillte Atmosphäre genossen.

Heidelberger Ellmaurer starten

Das fiel zum Auftakt noch etwas schwer. Aber da mag der Regen nach 16 Uhr auf dem Maimarktgelände aufziehen, wie immer er mag: Als die Heidelberger Space Rocker von Ellmaurer auf der Fackelbühne des Maifeld Derbys das Auftaktkonzert geben, hallen kraftvolle Gitarrenriffs durch die Boxen, zu harten bis düsteren deutschen Texten. Als Vorgeschmack. Zumindest musikalisch ein Auftakt nach Maß.

Und Kontrastprogramm zur Melancholie, die viele Maifeld-Bands traditionell transportieren. Die der 21-jährigen Vokalistin Novaa aus Berlin ist bestechend – die verführerische Kraft in ihren abgründigen Eigenkompositionen fast schon von bedrohlicher Suggestivität. Von diesem jungen Talent, das wunderbar nach Mannheim und zum Derby passt, hat man in der Szene ganz bestimmt nicht zum letzten Mal gehört.

Hot Chip räumen im Zelt ab

Im großen Palastzelt steppt bis 2 Uhr der Tanzbär: Die australische Band Parcels räumt in dem Achtmaster gegen 21 Uhr fast genau so ab wie schon vor zwei Jahren, damals noch im Brückenawardzelt. Danach übernehmen Hot Chip. Mit Spannung war das Headliner-Set der britischen Synthie-Popper erwartet worden – und Frontmann Alexis Taylor und sein Quintett liefern. Vor dicht gesäumten Reihen präsentieren sich die expressiven Herren aus London in einer grell erleuchteten Bühne, die sie nicht nur wie Derwische tanzend zum Wackeln bringen – auch akustisch setzen die Jungs Maßstäbe zwischen Indie-Pop und Electronica. So schaffen sie erkennbar weiterhin ihr eigenes Genre, das Substanz verspricht – und hat. Das um einen Live-Schlagzeuger erweiterte Produzenten-Duo HVOB (Her Voice Over Boys) beschließen ab 0.50 Uhr die Nacht im Palastzelt. Die ehemaligen Herbstrocker aus Wien entfesseln aus sphärischen Klängen eine Miniatur-Time-Warp, über teils wuchtigen, teils housigen Beats schwebt dabei die Elfenstimme von Anna Müller. Das verzückt ihre Fans – und fesselt den Rest lange.

Anarchie und Festivalalltag

Mehr dem Spaß verschrieben haben sich die etwas anarchischeren Truppen des ersten Derby-Tages – allen voran die Sleaford Mods. Das Duo aus Nottingham wird seinem infernalischen Ruf auf Anhieb gerecht: Wer einen gewissen Gossenpoeten-Appeal zu schätzen weiß, erlebt mit diesem gerappten Punk auf fabelhafte Electro-Beats von Robert Lindsay Fearn auf der Open-Air-Bühne des Maifeld Derbys lange einen echten Festivalhöhepunkt. Es wird getanzt, gewippt und viel gegrinst. Denn Rapper Jason Williamson gibt extrem unterhaltsam ein wandelndes Tourette-Syndrom – und redet in Rage wie ein Lexikon, das Sex-Pistols-Frontmann Johnny Rotten aus einem Dutzend der wichtigsten englischen Schimpfwörter zusammengestellt hat. Wenn er nicht gerade zu singen versucht, ist das groß – und viel lustiger kann‘s kaum werden. Wird’s auch nicht, als der Sound nach etwa 40 Minuten rockiger wird, flacht der Auftritt im letzten Drittel etwas ab.

Noch so ein seltsames Paar sind Odd Couple: Die Berliner entwickelt im prall gefüllten Hüttenzelt zunächst mit ziemlich virtuosem Lärm zwischen Punk und Electro-Teppichen erstaunliche Zugkraft. Stilistisch ist das schwer zu greifen, verändert sich von Lied zu Lied und klingt mitunter, als ob Kraftwerk wie in ihren Anfangstagen psychedelischen Krautrock anfertigen würde - nur nicht so repetitiv. Ein Höhepunkt ist ihre Version von „Koordinaten“, adaptiert von der Schweizer Band Klaus Johann Grobe, das dann wieder etwas gradliniger daherrockt – mit wirklich bemerkenswerten, hochorganischen Gitarrensounds. Und der schönen Botschaft: „An Deinem eigenen Weg führt kein Weg dran vorbei.“ Ein Erfolg, wie er an gleicher Stelle zuvor schon den musikalisch teilweise ähnlich veranlagten Yin Yin gelungen war.

Den hat Niklas Paschburg hörbar gefunden. Der junge Mann von der Ostsee ist auf der kleinen „Parcours d’Amour“-Bühne im Reitstadion vielleicht die größte Überraschung des Premieren-Tages. Zwischen Akkordeon und Klavier, elektronischen Samples und inspirativen Harmonieketten erinnert Paschburg bisweilen an Nils Frahm oder Martin Kohlstedt – und ist in seinen Ideen doch noch dieses Stück radikaler, diesen einen Dreh progressiver.

Weniger mit Komfortrauschen im physikalischen Sinne (ein künstliches, kaum wahrnehmbares Geräusch, das digitale Pausen angenehmer klingen lässt) zu tun haben Alcest. Die französischen Post-Metal-Pioniere hauen nach Mitternacht im Hüttenzelt noch ein ordentliches Brett raus. Da bleiben selbst Besucher, denen das Projekt um Sänger und Gitarrist Neige bislang gänzlich unbekannt war, stehen – und lernen, andächtig zu lauschen. Denn auch, wenn die Nummern im nächtlichen Nebel hier viel Atmosphäre atmen: Zu episch gerät dem Quartett der durch und durch eindrucksvolle Sound keineswegs. Ein prächtiger Abschluss vor absolut würdiger Kulisse für die Rock-Fraktion. Danach herrschen die Beats von Komfortrauschen bis 3 Uhr.

Mannheim

Maifeld Derby 2019 - Tag 1

Veröffentlicht
Bilder in Galerie
18
Mehr erfahren

Ressortleitung Stv. Kulturchef

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen