Mannheim. Er hinterlässt fraglos Eindruck, der Mannheimer Chor mit dem programmatischen Namen "Chor für Menschen die nicht singen können". (Wer unter den aufmerksam Lesenden an dieser Stelle über die Zeichensetzung stolpert: das Ensemble wird tatsächlich ohne Komma geschrieben.) Wir haben ihn zum ersten Mal gesehen, als er Mitte Juni das Indie-Musikfestival Maifeld Derby auf dem Mannheimer Maimarktgelände eröffnete. Insgesamt rund zwei Dutzend Köpfe stark, trat das Vokal-Kollektiv dort in Band-Begleitung auf die Open-Air-Bühne, einige Mitglieder mit Schildern bewehrt, die Schriftzüge wie „Demokratie ist lustig“, „Hier gibt es nichts zu sehen“ oder „Steh auf Mannheim“ trugen.
Man sang und spielte Lieder von Grauzone („Eisbär“), City („Am Fenster“) oder Jeans Team („Das Zelt“) bei diesem Auftritt, der zwischen Performance-Kunst, Agit-Pop und Liedermacher-Punk changierte, dabei eine nachgerade anarchisch-sympathische, überspringende Energie entband. Bald darauf war der Chor (kurz: CfMdnsk) bei einem Schillertage-Konzert des Mannheimer Nationaltheaters zu Gast - und soll dem Vernehmen nach auch dort für allerhand positiv nachhallendes Aufsehen gesorgt haben.
Geprobt wird im Alter
- Der Chor für Menschen die nicht singen können wurde im Juni 2022 am gemeinnützigen Mannheimer Freizeit- und Kulturprojekt Alter gegründet.
- Geleitet wird er von Julia Alicka sowie den POW-Vereinsmitliedern und Musikern Johannes Burkhart und Marcel Maier.
- Kontakt kann man über Instagram oder Facebook aufnehmen oder direkt vor Ort.
- Proben: jeden Freitag, 17 Uhr, im Alter am Alten Messplatz.
- Weitere Infos: www.alter-mannheim.de/verein
Das macht natürlich neugierig, und die Person, die in all den Fragen, die einen dazu bestürmen, weiterhelfen kann, ist die Musikerin Julia Alicka. Sie ist Initiatorin und Co-Leiterin des Chors und zugleich Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins POW, der das gemeinnützige Freizeit- und Kulturprojekt Alter am Alten Messplatz in Mannheim betreibt. Dort hat die Chorgeschichte im vergangenen Sommer ihren Anfang genommen.
Angefangen als Workshop
Beim Alter würden auch viele Musik- und Tanzworkshops angeboten, erzählt Julia Alicka, und deswegen sei die Idee gewesen, den Chor als Workshop anzufangen. „Das ist total niederschwellig gedacht als Konzept“, führt sie weiter aus - wirklich jede und jeder dürfe mitmachen und „sich angesprochen fühlen mit dem Nicht-singen-können.“ Sie weiß, dass es andere Chöre gibt, die in eine ähnliche Richtung gehen, und blickt dabei auch in die Schwesterstadt Ludwigshafen, wo der dortige Kunstverein seine Beschwerde-Chöre organisierte.
In Mannheim aber war dergleichen ein Novum. Alicka betont, wie wichtig hierbei der Aspekt des Nicht-singen-Könnens sei, „dieses Kippen von: Wir wollen lernen, wie man singt oder wie man intoniert.“ Für sie gehe es vielmehr darum, „sich auszudrücken, um da einfach mal loszulassen“, darum, überspitzt gesagt, „sich da nackt zu machen.“ Im Juni 2022 hatte der CfMdnsk begonnen, „und jetzt nach einem Jahr ist es so, dass die Menschen da wirklich komplett aufmachen, aufgehen in dieser Rolle des singenden Performers“, schildert Alicka.
Dazu gehöre auch, dass dieser Chor ja gleichsam aus dem Publikum heraus auf die Bühne trete: „Also von unten nach oben. Wir wenden dieses Blatt einmal.“ Zudem: „Ganz klar ist das auch ein bisschen an den Josef Beuys-Ansatz angelehnt: Jeder Mensch kann Künstler sein - und das eben übertragen auf Musik. Unser Motto ist: Wir können nicht singen. Wir wollen singen.“ Ganz bewusst soll es mithin so sein, „dass es auch schräg klingt“, erklärt die 44-Jährige.
Der zweite Ensemble-definierende Aspekt ist die Auswahl der Lieder: „Was wir singen, ist ganz klar an ein Konzept gebunden. Und zwar sind da schon Arbeiterlieder, da sind schon politische Lieder dabei, viel aus den 60ern, 70ern“ - Stücke, in denen über soziale Ungerechtigkeit und gegen Gentrifizierung gesungen werde. „Es sind Themen, die jeden Einzelnen betreffen, ganz viele davon wohnen auch in der Neckarstadt, und es ist schon Thema, was dort passiert.“
„Diese Fläche ist auch eine Art Lupe geworden für soziale Probleme in der Neckarstadt“, sagt die Vereinsvorständin über das Alter-Projekt. „Und natürlich werden diese Themen sozusagen mitgenommen und über die Musik dann subtil ausgedrückt.“ Angefangen habe die Programmauswahl mit Krautrock und Gruppen wie Floh de Cologne oder Ton Steine Scherben. Doch auch Titel aus der Neuen Deutschen Welle hätten „sich mit eingemischt“. Ebenso finden sich Brecht-Stücke im Repertoire, zudem Aktuelleres wie Lieder der Berliner Chorleiterin Bernadette La Hengst.
Die Altersspanne der CfMdnsk-Mitglieder reicht von 20 bei 70, einige kämen auch aus der Pfalz, andere aus Heidelberg, zwei schwerbehinderte Menschen seien dabei - und divers sei der Klangkörper obendrein. Insgesamt bildeten 25 Menschen „den harten Kern“. Die Musiker der fünfköpfigen Chor-Band hätten ihrerseits singend angefangen, dann aber an die Instrumente gewechselt. Also warum nicht einfach mal hingehen, anhören oder besser noch: mitsingen!
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