Wer weiß, vielleicht fänden wir es heute ganz selbstverständlich, in einer gläsernen Wasserturmspitze Cappuccino zu trinken. Womöglich würden wir uns über Kongresse oder Akademiekonzerte auf dem Friedensplatz statt im Rosengarten kein bisschen wundern. Dass es im Namen der Bürgerinnen und Bürger anders gekommen ist, dazu hat der „Mannheimer Morgen“ bei vielen Streitthemen beigetragen. Die Redaktion nutzte schon früh das Instrument der Meinungsumfrage – kombiniert mit Diskussionsbeiträgen, Sachargumenten und seitenweise Platz für Leserzuschriften.
Als Anfang der 1950er Jahre Unmut laut wird, weil die Theater der Städte Mannheim und Heidelberg fusioniert werden sollen, beschließt der Gemeinderat die im Quadrat B 3 zerbombte Bühne durch einen Neubau zu ersetzen. Im Gespräch sind mehrere Standorte – auch das Schloss, wo schon Hofoper und französische Komödie im 18. Jahrhundert ihr Domizil hatten. Der „MM“ inszeniert einen „Info-Prolog“ , der Für und Wider ausleuchtet, ehe er die Leserschaft nach ihren Favoriten befragt. Bekanntlich macht der Goetheplatz das Rennen, wo der ultramoderne Bau des Architekten Gerhard Weber, Schüler des berühmten Mies van der Rohe, im Januar 1957 feierlich eröffnet wird.
Damals präsentiert sich der teilzerstörte Wasserturm noch mit Notdach – weshalb die Stadt 1955 einen Ideenwettbewerb auslobt. Das Preisgericht wählt aus 132 Entwürfen jenes gläserne Café samt futuristischem Wasserbehälter aus, das ein in Mannheim aufgewachsener, aber in Frankfurt lebender Architekt namens Rolf Volhard gestaltet hat. Damals ahnt natürlich niemand, dass dessen 13-jährige Tochter Christiane vier Jahrzehnte später als erste deutsche Frau (Christiane Nüsslein-Volhard) den Medizin-Nobelpreis erhalten wird. Aber selbst wenn eine Wahrsagerin diese wissenschaftliche Sensation vorausgesagt hätte, wären die Proteste gegen „die fliegende Untertasse“, so einer der vielen Spitznamen, wohl kaum verstummt. Begleitend zu einer Ausstellung sämtlicher Entwürfe veröffentlicht der „MM“ Coupons mit dem Motto „Leser sagen ihre Wasserturm-Meinung“. 4868 ausgefüllte Zettel werden innerhalb einer Woche an die Lokalredaktion geschickt. Die große Mehrheit will Mannheims Wahrzeichen mit vertrauter Silhouette. Und so verschwinden die Wettbewerbsideen in Rathaus-Schubladen. Stattdessen wird die neu angefertigte Amphitrite 1963 spitzenmäßig inthronisiert.
Der Theaterneubau steht, auf dem Wasserturm funkelt es göttlich wie golden, und schon gibt es neue Konflikte. Gestritten wird um die Frage, ob der Rosengarten erweitert oder auf dem Friedensplatz (wo heute das Technoseum residiert) ein Saalbau errichtet werden soll. Die „ MM“-Redaktion plädiert nach mehreren Informationsfahrten, beispielsweise zur Meistersinger-Halle in Nürnberg, für ein Kongresszentrum auf der grünen Wiese – räumt aber auch dem von der Stadt favorisierten Ausbau der Jugendstilanlage viel Platz ein. Ein Bürgerkomitee setzt den ersten Bürgerentscheid in einer deutschen Großstadt durch. Zwei Drittel der 52 000 Wähler kreuzen die Friedensplatz-Variante an. Weil aber insgesamt zu wenig Mannheimerinnen und Mannheimer an die Urne gehen, erlangt das Votum keine Rechtsgültigkeit.
16 000 Coupons an die Redaktion
Und so wird der Mozartsaal nach Plänen des Architektenbüros Schmucker verwirklicht und einige Monate vor der Bundesgartenschau 1975 eröffnet. Statt der ursprünglich geplanten 40 Millionen Mark verschlingt die Rosengartenerweiterung 75 Millionen. Nein, zum Fenster hinausgeworfen sei das Geld nicht, kommentiert der „MM“ Jahre später und kommt zu dem Schluss, dass sich das Kongresszentrum im Herzen der Stadt bewährt. Zurück zur Bundesgartenschau: Noch während des erfolgreichen Blumenfestes sprießt ein neues Streitthema und rankt sich um Fragen wie Sollen im „Danach-Sommer“ die Zäune des Luisen- und Herzogenriedparks fallen oder bleiben, soll der Besuch künftig frei oder gegen Entgelt erfolgen? Der „MM“ gibt nicht nur Gelegenheit, auf Leserbriefseiten zu argumentieren, sondern auch per Post zu votieren.
Über 16 000 (!) Kurpfälzer schnippeln einen der Coupons aus und senden diesen ausgefüllt an die Redaktion, damals noch am Marktplatz. Die Mehrheit plädiert für geschützte eintrittspflichtige Parks. Der Gemeinderat stimmt zu – aber nur für zwei Jahre auf Probe. Danach spricht freilich niemand mehr davon, die beiden Grünoasen frei zu geben und damit deren Pflegestandard herunterzufahren. Die Stadtparks bleiben auch nach der Bundesgartenschau Publikumsmagnet. Bis heute.
Bewegt haben freilich nicht nur kommunalpolitische Streitthemen. So wühlt im Sommer 1960 eine Bluttat auf. Es ist die Zeit, in der die Wirtschaft brummt, und Gastarbeiter höchst willkommen sind. Einer davon ist Pietro Cerdarmas. Der 52-jährige Norditaliener wird von einem deutschen Arbeitskollegen mit einem Beil erschlagen, als er diesen in der Schlafunterkunft bei der Suche nach erspartem Lohn überrascht. Entsetzte Menschen aus Mannheim und der Region geben an der „MM“-Pforte Briefe der Anteilnahme mit beilegten Münzen, aber auch Banknoten ab. Als die Redaktion eine Spendenaktion organisiert, zahlen in der Schalterhalle des R 1-Verlagshauses auch jene ein, die nur Groschen erübrigen können. Gleichwohl kommen über 7000 Mark zusammen, damals eine stattliche Summe. Ein „MM“-Redakteur reist mit Fotograf in das karge Bergdorf, um der Witwe, die keinerlei Rentenanspruch hat, das Geld und die vielen Briefe persönlich zu übergeben. Der älteste Sohn Pio, der selbst schon an Rhein und Neckar als Saisonkraft gearbeitet hat, zeigt in tiefem Schmerz Größe und lässt übersetzen: „Der Täter ist nicht Deutschland.“ In ganz Italien greifen Zeitungen nicht nur den Mord an dem vierfachen Familienvater im fernen Mannheim auf – auch die Anteilnahme und bekundete Scham der Bevölkerung.
Aufruf zum Ideenwettbewerb
Kinder, Kinder, was der „Mannheimer Morgen“ schon so alles initiiert hat – sogar einen Kinderspielplatz. Und dieser begann damit, dass der „MM“ anlässlich seines 25. Geburtstages symbolträchtige 25 000 Mark spendete, die einer Spieloase zugutekommen sollten. Doch bevor Balancierbrücke, Schwebeseilbahn und Kletterfindlinge installiert werden konnten, sollten drei Jahre in die Quadrate ziehen. Zuerst galt es, eine geeignete Fläche zu finden. Bei einer Ortsbesichtigung im Dezember 1971 entschied sich der „MM“ für das Ruinengrundstück U 5, 8-10 – aber nicht, weil das Gelände durch ideale Bedingungen bestochen hätte. Nein, weil es in einer tristen Wohngegend ohne Tobmöglichkeiten für Mädchen und Buben lag. Doch dann stellte sich heraus, dass die Stadt das Areal schon als Pkw-Abstellfläche verplant hatte. Es sollte bis zum November 1972 dauern, ehe der Gemeinderat die Änderung des Bebauungsplanes zugunsten eines Spielplatzes änderte. Im Frühjahr darauf rief der „MM“ zu einem Ideenwettbewerb auf und veröffentlichte als Diskussionsgrundlage ein Modell des Grünflächenamtes. Vertreter des Vereins „Abenteuerspielplätze Mannheim“ reichten einen Alternativentwurf ein.
Schließlich setzten sich die Abenteuer-Verfechter, Rathaus-Vertreter und der „MM“ an einen Tisch und legten gemeinsam die Gestaltung fest. Schon bald kam der Schock: Die errechneten Gesamtkosten betrugen 145 000 Mark – hingegen standen (inzwischen) an Spenden 33 000 Mark zur Verfügung. Nur gut, dass sich Gemeinderäte quer durch die Fraktionen einig waren, das Projekt umzusetzen und bei den Etatberatungen 85 000 Mark bewilligten. Zum Stopfen der Finanzlücke trommelte der „MM“ für Spenden – auch in Form von Sachmitteln und Arbeit. Und so kamen von Privatpersonen wie Firmen noch einmal 15 000 Mark zusammen. Obendrein gab es Verschönerungen für die Umgebung: Beispielsweise gestaltete die Maler-Meister-Schule eine 13 Meter hohe Wand mit bunten Drachen und trompetenden Dickhäutern.
Am 13. Juli 1974 war es soweit: Der Spielplatz wurde frei gegeben – mit vielen Aktionen und Prominenz. Klar, dass der damalige Oberbürgermeister Ludwig Ratzel sehen wollte, wie die von ihm gespendete Basketball-Installation ankommt. Und als der Mannheimer Kunstmaler Peter Schnatz dazu anleitete, auf einer Seitenwand mit Farbe der Fantasie freien Lauf zu lassen, griffen nicht nur Kinder zum Pinsel.
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