Mannheim. Frau Bertschek, die EFI-Kommission hat jüngst ihr Jahresgutachten an Bundeskanzler Olaf Scholz überreicht. Verschwindet das jetzt in der Versenkung?
Irene Bertschek: Das glaube ich nicht. Das Kabinett hat ja mit seiner kürzlich verabschiedeten Zukunftsstrategie Forschung und Innovation den missionsorientierten Ansatz aufgenommen, den wir bereits in unserem Gutachten 2021 gefordert haben. Diese ist enorm wichtig, weil wir auch bei der Forschungs- und Innovationspolitik vor einer Zeitenwende stehen . . .
. . . diesen Begriff sollte man nicht überstrapazieren . . .
Bertschek: . . . das mache ich nicht. Aber die großen Herausforderungen unserer Zeit wie Klimawandel, Gesundheit oder Digitalisierung können wir nur erfolgreich angehen, wenn eine Aufbruchstimmung in der Breite der Gesellschaft herrscht. Die sehe ich aber im Moment noch nicht. Die Bundesregierung muss mehr Werbung bei den Bürgerinnen und Bürgern machen, damit diese Transformation erfolgreich sein kann.
Irene Bertschek
- Irene Bertschek wurde 1966 in Rheinstetten geboren und lebt in Hemsbach.
- Bertschek ist Leiterin des Forschungsbereichs Digitale Ökonomie am Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und Professorin für Ökonomie der Digitalisierung an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
- Bertschek ist stellvertretende Vorsitzende der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), die die Bundesregierung berät. Sie ist Mitglied im Zukunftsrat des Kanzlers.
Die Zukunftsstrategie ist also nur der erste Schritt?
Bertschek: Ja, die Bundesregierung muss ihre recht allgemein gehaltenen Missionen wie die Digitalisierung und den Klimaschutz weiter konkretisieren und die daraus abgeleiteten Ziele und Maßnahmen dann auch umsetzen. Das ist schwierig, weil sie in die Zuständigkeit mehrerer Ministerien fallen. Da darf es kein Silodenken geben, wir brauchen in den Missionsteams eine ressortübergreifende Zusammenarbeit. Ich habe Bedenken, ob das funktionieren wird.
Beim Klimaschutz klappt es jedenfalls bisher nicht, da gibt es ständig Streit zwischen Wirtschaftsminister Robert Habeck und Verkehrsminister Volker Wissing.
Bertschek: Daher haben wir empfohlen, im Bundeskanzleramt einen Regierungsausschuss für Innovation und Transformation einzurichten, der diese Aktivitäten koordiniert. Es geht aber nicht nur um die Ministerebene. Wir müssen vor allem Anreize dafür schaffen, dass die Beamten in den verschiedenen Ressorts an einem Strang ziehen. Denn die betreiben ja die Detailarbeit. Dazu bedarf es eines Teamspirits. Dieser ist notwendig, damit die Politik die entsprechenden Maßnahmen auch umsetzen kann.
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Symbolisch für die Diskrepanz zwischen Schein und Sein sind bei der Digitalisierung die Faxgeräte in den Gesundheitsämtern während der Corona-Pandemie.
Bertschek: Ja. Die Digitalisierungsdefizite sind die große Achillesferse in Deutschland. Vor allem im Gesundheitswesen und in der öffentlichen Verwaltung. Im Onlinezugangsgesetz steht, dass 575 Verwaltungsdienstleistungen bis Ende 2022 digitalisiert sein sollten. Kurz vor der Deadline waren 33 flächendeckend verfügbar.
Woran hakt es?
Bertschek: Bei der Digitalisierung von Verwaltungsleistungen stehen wir vor dem Problem, dass die Zuständigkeiten fragmentiert sind. Wir haben den Bund, 16 Länder und die Kommunen, da ist es schwierig, die vielen Schnittstellen zu überwinden. Auch deshalb liegen wir im EU-Vergleich nur auf Platz 18.
Ganz vorn rangiert Estland, dort konnte man schon vor 20 Jahren sein Parkticket bequem mit dem Handy bezahlen.
Bertschek: Ja, die Esten haben praktisch ihr ganzes Verwaltungssystem digital aufgesetzt. Natürlich ist Estland kleiner als Deutschland und hat kein föderales System. Aber das darf für uns keine Ausrede sein.
Wie steht denn die Wirtschaft bei der Digitalisierung da?
Bertschek: Sie schneidet im internationalen Vergleich besser ab als die Verwaltung. Es gibt aber ein Gefälle zwischen kleinen, mittleren und großen Unternehmen, die in der Regel deutlich stärker digitalisiert sind. Es fehlt also noch an Digitalisierung in der Breite. Das ist ein typisches Muster, das wir immer wieder bei der Anwendung neuer Technologien, so auch bei der Künstlichen Intelligenz sehen.
Sie haben auf der ZEW-Homepage eine eigene Stellungnahme zum Gutachten veröffentlicht und stark gegen den Datenschutz gewettert.
Bertschek: Gewettert ist jetzt eine starke Formulierung. Ich käme nie auf die Idee, die Berechtigung des Datenschutzes in Frage zu stellen.
Aber?
Bertschek: Es geht um die Auslegung des Datenschutzes. Auch hier haben wir 16 Bundesländer, die den Datenschutz in Teilen juristisch unterschiedlich auslegen. Forschungseinrichtungen wie zum Beispiel unser ZEW brauchen die Zustimmung der Bundesländer, wenn wir amtliche Statistiken auswerten wollen.
Deshalb arbeitet das ZEW auch gerne mit Statistiken aus den USA.
Bertschek: Ja, zum Teil, aber auch in den skandinavischen Ländern kommen wir leichter an Zahlen. Ein Datenparadies ist zum Beispiel Dänemark. Da bekommt jeder Bürger eine Identifikationsnummer, die ihn das ganze Leben begleitet. Viele Daten wie die Einkommensteuer werden erfasst und sind für Forschungszwecke zugänglich. Die Datenschutzgrundverordnung gilt EU-weit, dennoch hat die Forschung in Dänemark leichteren Zugang zu wichtigen Daten als in Deutschland.
Sie wollen den Datenschutz also nicht aushebeln, sondern auch ein solches Datenparadies?
Bertschek: Genau, ich will, dass die Auslegung des Datenschutzes die Arbeit mit diesen Daten, von der am Ende ja alle profitieren, nicht verhindert, sondern ermöglicht. In Deutschland werden der Forschung Fesseln angelegt. Die Forschung benötigt aber Daten zumindest in anonymisierter Form, um Erkenntnisse zu gewinnen. Das war ja auch in der Pandemie ein großes Problem.
Themenwechsel: Stimmt es, dass die Forschungsausgaben bei uns zu niedrig sind?
Bertschek: Das kann man so pauschal nicht sagen. Deutschland hat sich das Ziel gesetzt, für Forschung und Entwicklung jährlich 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufzuwenden. Wir liegen da momentan bei rund 3,1 Prozent. Es gibt allerdings Länder, die viel besser abschneiden, wie etwa Schweden, die USA und Japan oder auch Südkorea, wo die Quote sogar bei 4,8 Prozent liegt. Aber unterm Strich können wir uns sehen lassen.
Also alles gut?
Bertschek: Die Forschungsquote ist nur ein Inputmaß. Entscheidend ist aber auch, was aus der Forschung herauskommt. Bei der Umsetzung von Ideen in Produkte, die dann auf dem Markt verkauft werden, liegt in Deutschland im internationalen Vergleich noch zu viel Potenzial brach. Deshalb haben wir uns im Gutachten auch mit Technologiemärkten beschäftigt. Dort können Erfinder ihre Ideen an Unternehmen verkaufen, die diese dann verwerten, weil sie das vielleicht besser können als die Erfinderinnen selbst. Wir haben vorgeschlagen, dass die Daten, die schon beim Deutschen und beim Europäischen Patentamt vorhanden sind, besser nutzbar gemacht werden müssen. Das macht es für Unternehmen leichter, die auf der Suche nach Patenten und Ideen sind, um diese mit ihrem eigenen Know-how kombinieren und Innovationen realisieren zu können.
Ist unser Perfektionsdenken auch ein Hindernis?
Bertschek: Ja, viele Unternehmen scheuen sich davor, auch mal mit einer halb fertigen Lösung loszulaufen und etwas auszuprobieren. Das Scheitern wird bei uns oft nur als Risiko gesehen. Das ist beispielsweise in den USA und Israel anders. Deshalb gibt es dort auch viel mehr Risiko- und Wagniskapital, weil auch die Geldgeber wissen, dass von ihren zehn Investments wahrscheinlich nur eines richtig einschlägt.
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