Mannheim. Herr Knie, in Mannheim hat lange nichts mehr für so viel Aufregung gesorgt wie ein Verkehrsversuch, bei dem einige wenige Innenstadt-Abschnitte für Autos gesperrt wurden. Warum kochen bei dem Thema die Emotionen so hoch?
Andreas Knie: Das ist ein deutsches Thema. International ist es längst Trend, in Städten mehr Raum für anderes zu schaffen als für den Autoverkehr: also mehr Platz für Fußgänger, Fahrradfahrende, für Grünflächen. Wir in Deutschland tun uns damit unglaublich schwer, weil das Auto in unseren Köpfen eine unheimlich große Bedeutung hat - teilweise selbst bei denen, die gar keins haben. Wir können uns einfach nicht vorstellen, dass es auch mit weniger Autos geht.
Mobilitätsexperte
- Andreas Knie leitet die Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
- Er ist u.a. Mitglied im Thinktank Agora Verkehrswende.
- 2021 wurde Knie mit dem Bertha-und Carl-Benz-Preis der Stadt Mannheim ausgezeichnet.
Vielleicht weil es mancherorts wirklich kaum ohne geht - Stichwort schlechter ÖPNV.
Knie: Sicher muss der Öffentliche Nahverkehr besser werden. Faktisch muss man sagen: Außerhalb der Städte - also im Prinzip hinter der Wendeschleife der Straßenbahn - gibt es keinen funktionierenden ÖPNV, da gibt es allenfalls Schülerverkehr. Aber jede Kernstadt in Deutschland, ob es Mannheim, Augsburg, Berlin oder München ist, hat ein akzeptables Angebot an Öffentlichen Verkehrsmitteln. Deshalb bräuchten wir in Städten allenfalls die Hälfte der Autos, die im Moment dort fahren und herumstehen.
Wenn irgendwann nur noch „saubere“ Elektrofahrzeuge unterwegs sind, warum muss der Autoverkehr in den Städten dann überhaupt reduziert werden?
Knie: Das Auto okkupiert in unseren Städten Lebensqualität: Der fließende und vor allem der ruhende Verkehr beanspruchen enorm viel Platz, den wir für andere Dinge benötigen. Zum Beispiel müssen wir unsere Städte klimaresilienter machen, sonst können wir uns dort irgendwann nicht mehr aufhalten. Dafür brauchen wir mehr Grün und unversiegelte Böden, die Wasser aufnehmen. Das ist aber nur ein Aspekt.
Und der zweite?
Knie: Wir müssen die Innenstädte wieder stärker beleben. Durch den digitalen Wandel sind die Menschen viel mehr virtuell unterwegs: Sie bestellen im Internet, arbeiten von zu Hause aus. Dadurch hat die Präsenz in den Innenstädten deutlich abgenommen, deshalb leidet der Einzelhandel. Das Leben muss also wieder zurückkommen in die Städte - und dafür müssen wir die Infrastruktur fürs Auto und Parken zurückbauen.
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Interessant, dass Sie das sagen. Der Einzelhandel argumentiert meist genau umgekehrt: Wenn die Leute nicht mit dem Auto in die Stadt kommen dürfen, kommen sie gar nicht mehr, heißt es oft.
Knie: Bis in die 1970er/80er Jahre war das auch so. Leider kriegt man diese Idee nicht aus den Köpfen, obwohl sie seit Jahrzehnten nicht mehr stimmt. Wir haben das zigmal untersucht. Die Formel lautet schon lange: Je weniger Autoverkehr in einer Innenstadt, desto höher ist der Einzelhandelsumsatz. Das hat sich international überall durchgesetzt. Nur wir in Deutschland glauben noch, dass jeder mit dem Auto vor den Laden fahren will.
Was möchten die Menschen denn?
Knie: Wenn sie aus dem Umland kommen, fahren sie gerne mit dem Auto bis zum Stadtrand. Dort braucht es gute Möglichkeiten, um zum Beispiel mit der Bahn weiter ins Zentrum zu kommen. In der Innenstadt selbst wollen die Menschen aber laufen, sie suchen Aufenthaltsqualität und eine schöne Umgebung. Sonst bestellen sie im Internet. Bestes Beispiel: Galeria Karstadt Kaufhof. Dort hat man Jahrzehnte lang gepredigt: Wir brauchen Parkflächen, Parkflächen, Parkflächen. Jetzt sind die Warenhäuser tot - weil sie den Wandel bei den Kundenpräferenzen nicht verstanden haben.
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Gibt es denn Positivbeispiele von Städten, in denen sich die autoarme City bewährt hat, auch für den Handel?
Knie: In anderen Ländern gibt es da viele. In den Niederlanden ist schon seit den 1970er Jahren das Fahrrad das Maß aller Dinge in den Innenstädten. Das geht weiter in Belgien mit Gent oder Brüssel. Selbst die Franzosen fangen an, die Städte neu zu konstruieren. Auch Wien ist ein gutes Beispiel, wo man entschieden hat, das flächenhafte Parken zu reduzieren. Dort können wir genau messen, dass der Einzelhandel sehr davon profitiert.
Wenn Parkflächen in großem Stil in Parks und andere Plätze umgewandelt werden, wo stellen dann Anwohner ihre Autos ab?
Knie: Zum einen: Viele Menschen, die direkt in der Stadt leben, haben gar kein Auto. In Berlin zum Beispiel sind das mehr als die Hälfte der Anwohner. Zum anderen: Jeder, der in die Innenstadt zieht, muss sich darüber im Klaren sein, dass er mit seinem privaten Auto, auf das er exklusiv Zugriff hat, nicht zu 90 Prozent der Stehzeit öffentlichen Raum okkupieren kann. Wir haben den öffentlichen Raum in der Vergangenheit hergeschenkt an das Auto. Jetzt holen sich die Städte diesen Raum peu à peu zurück. Das müssen wir lernen. Das heißt: Wer in der Stadt ein eigenes Auto haben will, wird es perspektivisch nicht mehr selbstverständlich vor der Haustür abstellen können, sondern zum Beispiel ein paar hundert Meter weiter in einer Quartiersgarage.
Und der Stellplatz dort ist vermutlich nicht umsonst. Sie begleiten derzeit ein Modellprojekt in einem Berliner Quartier - und sprachen kürzlich in einem Interview davon, dass Anwohner dort 50 Euro im Monat für einen Garagenplatz zahlen sollen.
Knie: Das würde ich heute sogar noch drastischer formulieren. Seit einigen Jahren dürfen Kommunen im Prinzip für einen Anwohnerparkausweis Gebühren in der Höhe erheben, die es tatsächlich kostet, einen Stellplatz bereitzustellen. Das sind im Schnitt 3500 Euro im Jahr. Würde man diese Kosten gerecht verteilen, müssten dieses Geld eigentlich die Anwohner zahlen, die ein Fahrzeug abstellen wollen. Das macht im Moment keine Kommune, aber die Städte müssen jeweils für sich das richtige Maß festlegen. Entscheidend ist: Für jeden, der sich in der Stadt ein eigenes Auto leisten will, wird es deutlich teurer als bisher.
Mehrere Tausend Euro im Jahr fürs Anwohnerparken: Jeder Lokalpolitiker, der das durchsetzen wollte, würde doch politischen Selbstmord begehen...
Knie: Natürlich ist das unpopulär. Aber es gibt mehrere Kommunen wie Freiburg, Tübingen oder Hannover, wo Bürgermeisterwahlen auch explizit mit dem Argument gewonnen wurden, dass der Parkraum reduziert werden soll. Wichtig ist, dass man den Menschen erklärt, warum das wichtig ist: Weniger Autos in der Stadt bedeutet mehr Qualität für alle.
Wie kann man den Prozess gestalten, damit ihn möglichst viele Akteure in der Stadt mittragen?
Knie: Zunächst muss das die Stadtspitze, also der Oberbürgermeister oder die Oberbürgermeisterin, wirklich wollen, als klares Ziel formulieren und auch begründen. Und natürlich ist es klug, bestimmte Stakeholder früh einzubeziehen. Da ist der Einzelhandel sicher wichtig, aber eben auch Menschen, die bisher bei dem ganzen Thema nie eine Stimme hatten: zum Beispiel Kinder. Und man muss Alternativen zum privaten Pkw schaffen: Park&Ride-Angebote, Öffentlicher Nahverkehr, Platz für Sharingangebote usw.
Fehlt den Menschen auch einfach eine Vision davon, wofür man öffentlichen Raum außer als Parkfläche noch nutzen kann?
Knie: Das ist in der Tat ein ganz wichtiger Punkt - und auch ein deutsches Phänomen: Wir haben Angst vor dem Platz und wollen alles gleich wieder zubauen. Auf freie Flächen kommen sofort Blumenkübel oder irgendwelche anderen Dinge. Dabei könnte man auch einfach abwarten, was passiert: Die Menschen eignen sich den Platz in der Stadt schon an, wenn man sie lässt.
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