London. An diesem Montag ist wieder so ein Tag. Ein Datum, untrennbar verbunden mit einem Ereignis für die Ewigkeit. Und deshalb wissen alle, wo sie waren, als ein rotblonder Jüngling das Tennisturnier in Wimbledon gewann. Für Boris Becker ist dieser 7. Juli 1985 „mein zweiter Geburtstag“.
Vor 40 Jahren löste dieser 17-Jährige eine Euphorie und eine zeitweise hysterische Heldenverehrung aus, die das ganze Land erfasste und sein Leben von einem Tag auf den anderen veränderte – und zwar für immer. Wer verstehen will, warum Boris Becker so ist, wie er ist, muss wissen, was am 7. Juli 1985 und danach geschah.
Vielleicht hat er es geahnt, schon kurz nach diesem Sieg in Wimbledon. Ausgesprochen hat er es zwei Jahre danach. „Wenn ich aufgehört habe mit Tennis, will ich es auf einem ganz anderen Gebiet auch bis ganz nach oben schaffen“, sagte Boris Becker mit 19, „ich möchte jedenfalls nicht mit 50 rumlaufen und die Leute sagen hören: Guck mal, das ist der, der mit 17 Jahren in Wimbledon gewonnen hat.“
Doch genauso ist es gekommen, und heute wird sich jeder, der sich damals von der Begeisterung mitreißen ließ, erinnern. Viele wissen bis heute, wo sie waren, als Becker am 7. Juli 1985 um 17.26 Uhr mit einem mächtigen Aufschlag gegen Kevin Curren den Matchball setzte.
Boris Becker: Der erste deutsche Sieger auf dem „heiligen Rasen“
Noch nie hatte ein Deutscher das berühmteste Turnier der Welt gewonnen. Nur drei ungesetzte Spieler hatten in 108 Jahren zuvor das Finale des ältesten Turniers der Welt erreicht – und dabei nicht einen Satz gewonnen. Und noch nie war ein Sieger jünger gewesen als dieser unbekümmerte Deutsche, der damals 17 Jahre und 227 Tage alt war. Damit war Becker jünger als der Sieger des Wimbledon-Juniorenturniers 1985.
Doch diese Superlative allein hätten nicht gereicht, um diese Stimmung auszulösen. Es waren seine Matches, in denen er unerschrocken und unbeugsam kämpfte, seine Emotionen auslebte und so selbst Menschen mitriss, die die Zählweise beim Tennis noch nicht so recht verstanden hatten.
Seine Spiele waren Dramen, und zu einem guten Drama gehört das retardierende Moment – jener Punkt, der das Publikum um den Helden bangen lässt, weil er zu verlieren scheint. Ein Sieg wird erst zum Triumph, wenn er vor dem glücklichen Ende in Gefahr geraten ist. Und erst dann wird ein Sportler zum Helden.
Epischer Kampf gegen den Schweden Joakym Nyström
Becker kommt 1985 auf Platz 29 der Weltrangliste nach Wimbledon, er hat gerade das Vorbereitungsturnier im Londoner Queen´s Club gewonnen. Die Siege gegen die Amerikaner Hank Pfister und Matt Anger sind noch keine Sensationen. Doch dann kommt das Match gegen Joakym Nyström.
Es wird ein epischer Kampf über fünf Sätze; im letzten führt der Schwede bei eigenem Aufschlag mit 6:4 und 6:5, ohne sich einen Matchball zu holen. Wegen einer Regenunterbrechung und des Ruhetages läuft das Duell über drei Tage – danach schaut die Tenniswelt wie gebannt auf diesen Deutschen, dessen Leidenschaft immer mehr Zuschauer verfallen.
Er kämpft um jeden Ball, und wenn er auf dem heiligen Rasen in der Manier eines Fußballtorwarts danach hechtet und mit schmutziger Kluft weiterspielt, echauffiert man sich nicht mal auf den vornehmen Plätzen über diese unkonventionellen Methoden. Als „Becker-Hecht“ gehen diese Sprünge in die Tennis-Geschichte ein, ebenso die Becker-Faust, mit der „Boris Löwenherz“ (TV-Kommentator Gerd Szepanski) wichtige Punkte unterstreicht. Becker lebt Tennis.
Das halbe Land sitzt beim Finale vor dem Fernseher und zittert mit Boris Becker
Und er siegt. Auch gegen Tim Mayotte, in fünf Sätzen und trotz einer Verletzung am Sprunggelenk – ausgerechnet auf Court 2, wo er im Jahr zuvor im Drittrundenmatch gegen Bill Scanlon mit einem Bänderriss aufgeben musste und im Rollstuhl in die Kabine geschoben wurde. Und auch gegen Henri Leconte und Anders Jarryd, jeweils in vier Sätzen. Auf der Tribüne kreischen die Damen, in Deutschland beginnt die Tagesschau mit Wimbledon – oder sie wird verschoben.
Das ist nichts gegen den Hype, der nach dem Finalsieg gegen Kevin Curren ausbricht. Über 12 Millionen schauen in der Heimat zu und es bricht kollektiver Jubel aus. Wenn die Boulevard-Presse stammelt „Boris, du bist der Wahnsinn“, dann stammeln fast alle mit.
Und im Ausland gibt es Sympathie und Anerkennung – Deutschland hat wieder einen globalen Sport-Helden. „In Wimbledon wurde der Spieler des Jahres 2000 geboren“, schreibt die französische Sportzeitung „L‘Équipe“. Das berühmte amerikanische Magazin „Sports Illustrated“ hebt Becker auf den Titel: „The Wunderkind“. Die große BBC wählt ihn zur Sportpersönlichkeit des Jahres.
In Deutschland gibt es kein Blatt, das ohne Becker auskommt. Die Nackedei-Postille „Praline“ spekuliert wie andere bunte Blätter über das Liebesleben des Jungstars, die Macher der intellektuellen „Zeit“ heben einen Artikel über Becker („Matchball in den siebten Himmel“) auf die erste Seite. In den Standesämtern schießt „Boris“ in die Spitzengruppe der Vornamenliste für Neugeborene. Ist es da ein Wunder, dass zwei, drei Wochen nach Wimbledon 92 Prozent der Deutschen Boris Becker kennen?
Und 87 Prozent finden ihn sympathisch, so das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage. Tatsächlich reagiert Becker auf die Vereinnahmung zunächst etwas ungläubig, aber auch unbefangen. „Ich hab´ auch nach dem Wimbledonsieg zwei Augen und zwei Ohren, wie vorher“, sagt er zwei Wochen nach dem Triumph im „Aktuellen Sportstudio“, an der Seite des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker sitzt er beim Interview mit Harry Valerien auf einer Turnbank.
Das Fernsehen überträgt live den Empfang des Wimbledon-Siegers Becker in Leimen
Ohne Scheu, aber doch angenehm zurückhaltend plaudert Becker mit dem höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik. Und vielleicht hört er gar nicht richtig hin, als ihm der Politiker unversehens eine Last aufbürdet: „ Boris Becker hat in Leistung und Haltung ein Beispiel für junge Leute gegeben“, lobt von Weizsäcker.
Der Empfang in seiner Heimatstadt Leimen wird live im Fernsehen übertragen, Becker rollt in einem dem Papamobil nachempfundenen Fahrzeug durch die Straßen und Bürgermeister Herbert Ehrbar begrüßt in seiner Rede sicherheitshalber „die Zuschauer in aller Welt“. Später lässt Beckers Ausrüster Puma ein Feuerwerk zünden, am Himmel über Leimen (oder über Deutschland?) steht „We love Boris“.
Der Sportartikelproduzent aus Herzogenaurach kann es sich leisten, er wird zum Marktführer für Tennis-Ausrüstung. Denn die Deutschen wollen nicht nur Becker sehen, sondern auch Tennis spielen. Es gibt einen beispiellosen Run auf die Vereine, die vielerorts Aufnahmestopps verhängen müssen. Und die Sportartikel-Industrie, die noch im Frühjahr 1985 Umsatzeinbußen von 50 Prozent beklagt hat, atmet auf.
Und natürlich verdient auch Becker gut – dank eines ehemaligen Tennisprofis, der das Management der Firma Boris Becker übernommen hat. Im Frühjahr 1984 ist der Rumäne Ion Tiriac mit einem – geliehenen - Rolls Royce bei Familie Becker in Leimen vorgefahren. Er überzeugt die Eltern Elvira und Karl-Heinz Becker von seinen Plänen mit ihrem Sohn, der gerade mal auf Platz 200 in der Weltrangliste steht. Zusammen mit Trainer Günter Bosch legt der strenge Tiriac die Basis für den Sensationserfolg.
Kam der Wimbledon-Triumph zu früh für Becker?
Doch bald gibt es erste Misstöne. Fassungslos registriert Becker, dass man ihm Niederlagen nicht mehr verzeiht: „Menschen, die mich vor vier Wochen noch angehimmelt haben, schicken mich jetzt zum Teufel. Ich sitze ständig im Fahrstuhl zwischen Himmel und Hölle.“
Da steckte Becker schon mittendrin in einem Leben ewiger Popularität und Prominenz, ohne Chance auf einen dritten Geburtstag. Und er war immer noch 17, hatte keine Freundin und keinen Führerschein, aber das berühmteste Turnier der Welt gewonnen und war fünf Millionen DM reicher. Ein Reporter der „Washington Post“ beobachtete den jungen Helden aus der Nähe und notierte: „Vielleicht war er zu jung, um zu wissen, dass er zu jung war, um Wimbledon zu gewinnen.“
Aber daran zerbrach er nicht. Er wurde älter, siegte zwei weitere Male in Wimbledon, hatte Führerschein und Freundin. Nie hatte Deutschland einen besseren Tennisspieler. Aber auf dem Gipfel stand er am Anfang – vor 40 Jahren.
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