Braunschweig. Owen Ansah wollte das Vorstoßen in eine neue Dimension schwarz auf weiß sehen. Erst als er die Siegerurkunde mit der Zeit in Empfang nahm, machte es in seinem Kopf klick. Der Sprinter des Hamburger SV hatte bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Braunschweig Geschichte geschrieben. Als erster Deutscher blieb er über 100 Meter unter 10 Sekunden. Die Uhr stoppte bei 9,99. Damit verbesserte der 23-Jährige den acht Jahre alten deutschen Rekord des Wattenscheiders Julian Reus um zwei Hundertstelsekunden.
„Den deutschen Rekord kann mir zwar wieder jemand wegnehmen. Aber dass ich der erste Deutsche bin, der unter zehn Sekunden gerannt ist - das kann mir niemand mehr nehmen“, jubelte Ansah, der das Ticket für die Olympischen Spiele löste und sich gleich neue Ziele setzte: „Ich möchte das einfach alles aufsaugen. Ich konnte zeigen, dass ich gut drauf bin - und das möchte in Paris dann auch zeigen“, sagte Ansah, der zwar für den Hamburger SV startet, aber in Mannheim bei Sebastian Bayer trainiert.
Besonders im mentalen Bereich hat Ansah unter Bayer einen Sprung gemacht
Der ehemalige Weltklasse-Weitspringer Bayer, der 2012 den EM-Titel holte, hat 2021 als Nachfolger von Rüdiger Harksen beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) nicht nur als Bundestrainer die Disziplin 100 Meter Hürden Frauen übernommen, sondern ist am gleichen Dienstort in Mannheim ansässig. Der 38-Jährige hat eine leistungsstarke Gruppe um sich versammelt, die in Braunschweig auf ganzer Linie überzeugte: Ansah Gold über 100 Meter mit deutschem Rekord, Ricarda Lobe Gold im Hürdensprint mit neuer Bestzeit (12,89 Sekunden), Simon Batz Gold im Weitsprung mit 8,04 Metern. Lucas Ansah-Peprah lief im hochklassigen 100-Meter-Finale auf Rang fünf (10,27), die ebenfalls fünftplatzierte Sprinterin Sina Kammerschmitt (MTG Mannheim) verbesserte ihre Bestzeit um 16 Hundertstel auf 11,35 Sekunden.
Da Bayer nicht gerne über sich spricht, machten das andere für ihn. „Sebastian strahlt eine extreme Ruhe aus. Als Ex-Profi bringt er viel Erfahrung mit, die er an uns weitergibt“, nannte Lobe einen Kern der Zusammenarbeit. Auch Ansah betonte, dass Bayer ihn im mentalen Bereich vorangebracht habe. „Es mag vielleicht sein, dass ich nach außen Ruhe ausstrahle. In meinem Inneren sieht es allerdings ganz anders aus“, sagte Bayer, als er von dieser Redaktion mit den Aussagen seiner Schützlinge konfrontiert wurde.
In Braunschweig machten schon Vergleiche mit Fußball-Bundestrainer Julian Nagelsmann die Runde. Fakt ist, dass Bayer eine ähnliche Herangehensweise bevorzugt: „Ich bin nach einem solchen Wettkampf relativ schnell wieder ziemlich analytisch. In meinen Gedanken plane ich schon die nächsten Wettkämpfe“, betonte Bayer, der sich in seiner Blüte mit dem Pfälzer Christian Reif ein ähnlich leistungsförderndes Duell lieferte wie nun Ansah mit Joshua Hartmann (ASV Köln).
Bolts Weltrekord liegt in einer anderen Dimension
„Vielleicht schaffen es jetzt zwei, drei Jungs, unter zehn Sekunden zu laufen“, sagte der frühere Europameister. Bayer wusste jedoch auch, dass die 9,99 das Tor in die Weltspitze sind - mehr noch nicht: „Mit 9,99 reißt man international nichts. Aber ich glaube auch, dass 9,99 noch nicht das Ende ist.“ Zur Einordnung: Der Weltrekord des Jamaikaners Usain Bolt liegt seit der WM 2009 in Berlin in einer anderen Dimension - bei 9,58 Sekunden.
„Wir warten seit Jahrzehnten darauf, dass die Zehn-Sekunden-Marke fällt. Das braucht die Leichtathletik. Das tut so gut, so ein Ding auf die Bahn zu nageln“, sagte ARD-Experte Frank Busemann. Während der frühere Weltklasse-Zehnkämpfer aus sich herausging, versuchte Bayer bereits, alle wieder einzufangen. „Wir müssen einfach konzentriert und gut weiterarbeiten und nicht anfangen, irgendwie zu träumen oder so“, forderte der 38-Jährige.
Ansah selbst weiß nur zu gut, dass es nicht immer nach oben geht. Eine schwerwiegende Schambeinverletzung setzte ihn im vergangenen Jahr außer Gefecht. „Auf dem Weg zurück musste ich ihn ab und zu bremsen“, sagte Bayer. Um die Ziele für Paris zu erreichen, suchen beide aber wieder das Gaspedal. Ansah ist gerade erst auf den Geschmack gekommen. Womit der deutsche Rekord getoppt werden könnte? „Mit dem Olympia-Finale.“
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