Hockenheim. Es sind olympische Spiele in Hockenheim. Die fünf Ringe sind zu einem Konglomerat aus zwei und vier Rädern geworden – die sonst so legendären 100 Meter wurden kurzerhand zur Viertelmeile umgewidmet und statt austrainierten Athleten schreien sich hier die Motoren auf die akkurate Betriebslautstärke. Es sind die NitrOlympX, die nach langer pandemischer Pause endlich wieder da sind – und nach gebührendem Enthusiasmus verlangen. Denn auch, wenn Corona den Dragheads nicht ganz den olympischen Rhythmus von vier Jahren Pause aufzwang, blieb die Sehnsucht bei den Liebhabern der Zunft unaufhörlich.
Da mochten die Witterungsbedingungen den Fans des motorisierten Gigantismus noch so herausfordernde Umstände aufzwingen: Kein Preis ist für diesen Genuss zu hoch. Bereits an Tag eins auf dem Ring brennt die Sonne auf die Rico Anthes Quartermile, dass sich selbst die sonst so hartgesottenen Teammitglieder auf der Fahrerlager-Tribüne plötzlich eine Überdachung wünschen. Die Temperaturen sind unerbittlich, die Schwüle drückt auf die Sinne – und die Reifen der Boliden auf die bestmöglich präparierte Strecke.
Bei Konditionen wie diesen – das weiß jeder Fahrer – sind Topzeiten nicht nur fast unmöglich zu erzielen: Jeder Lauf ist auch ein Risiko für Material und Mensch. Es sind Sekunden am Limit. Doch diese Augenblicke reichen. Denn anders als bei allen anderen Rennserien ist hier, bei den NitrOlympX, alles in Sekundenschnelle vorbei. Triumph oder Traurigkeit, Sekt oder Selters: Das ist an diesem berüchtigten Ort innerhalb von Wimpernschlägen entschieden.
Es ist genau diese Kompromisslosigkeit, die auch die Menschen auf den Rängen fasziniert. „Hier geht es wirklich um alles – das hat mich schon immer begeistert“, wie Clyde Davis berichtet, der für seinen Besuch in Hockenheim eigens aus den Vereinigten Staaten angereist ist. „Der Dragster-Sport hat etwas ganz Klares an sich“, wie Davis im Gespräch mit dieser Redaktion klarstellt und dann präzisiert: „Denn entweder kannst du heute deine Leistung auf die Strecke bringen, oder nicht. Es gibt kein Hin oder Her, es gibt nur die Wahrheit auf der Strecke.“
Bolide in hunderten Stunden technischer Kleinarbeit komplett neu augebaut
Zwei, die diese Wahrheit für sich noch sehr viel tiefer erkunden wollen, sind Harald und Clarissa Czekalla. Den Teams des Dragracing-Sports muss man Harry und Claire, wie sie im Fahrerlager genannt werden, kaum noch vorstellen – denn seit Jahren sind die selbsternannten „Motografen“ mit der Kamera national und international unterwegs, um die Rennen in Bildern festzuhalten. Zahllose Fahrer ließen sich von ihren Fotos Plakate und Autogrammkarten drucken – aber man kam natürlich jenseits des bloßen Geschäfts auch ins persönliche Gespräch. Und eines Abends war es die spontane Frage von Claire Czekalla, ob sie nicht einmal einen Dragster fahren dürfte, der zum Zündfunken wurde. Denn zu der erwünschten Testfahrt kam es für die tatkräftige Frau aus Römerberg zwar nicht – dafür bekamen sie jedoch den Tipp, wie sie selbst zu Besitzern eines eigenen Boliden werden konnten. In England kauften sie einem Dragster-Piloten sein modifiziertes Rolling Chassis ab, erstanden einen 7,6 Liter Chevy Big Block-Motor mit 800 PS – und machten sich an die Arbeit. Harald Czekalla, der sich als Kfz-Meister schon immer für die Besonderheiten des Rennsports interessierte, baute den Boliden in hunderten Stunden technischer Kleinarbeit komplett neu auf, erfand für den Renner seiner Frau ein serienweit einzigartiges CO²-Kühlungssystem, zog jeden Schlauch selbst ein und jede Schraube von Hand fest.
Bis der blau-gelb-geflammte Pro ET von Clarissa endlich fertig war. Mitten in ihren 50ern lebt das Paar nun also tatsächlich den Traum des Rennsports – und auch, wenn es für die Czekallas eigentlich erst die allererste Saison im Geschäft ist: Bereits nach wenigen Wettkämpfen fährt die entschlossene Pilotin fast haargenau an ihre Index-Zeit von 10,4 Sekunden heran, düpiert regelmäßig ihre Konkurrenz und stellt in Hockenheim mit 220 km/h kurzerhand ihre eigene Bestleistung ein. „Es ist immer noch ein Stück geiler, als man es sich vorgestellt hat“, erklärt die Steuerfrau im Gespräch begeistert und fügt hinzu: „Das ist schöner als träumen.“
Es ist genau dieser Gedanke, der verfängt. Denn von Medaillen träumt bei einer Olympiade jeder Athlet. Auch in Hockenheim wollen die Methanol Funny Cars und die Super Twin Top Gas-Kombattanten, die Pro Stocker und die flammenwerfenden Top Fuel-Dragster ihren ganz eigenen Beitrag zur Geschichte leisten, an die Grenzen gehen – und schlussendlich den Siegerpokal in die Höhe recken. Doch worum es noch viel mehr geht, ist dieser Traum der unbegrenzten Geschwindigkeit, der sich im ganz konkreten Erlebnis zu einem erhebenden Rausch konvertiert. Und auch, wenn es kein Geheimnis ist, dass die NitrOlympX schon per Konzept kein Fest der Nachhaltigkeit sind: Die Grenzenlosigkeit dieser drei Tage ist Erfüllung.
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