Mannheim. Es klingt wie ein Spionagethriller aus der Feder John le Carrés. Wenn Norbert Nachtweih seine Flucht in den Westen schildert, die an einem Novemberabend 1976 im türkischen Bursa beginnt, wirkt das wie eine Erzählung aus einer anderen Epoche.
In den Hauptrollen: er, Jürgen Pahl, sein Mitspieler in der U 21 der DDR, sowie ein unbekannter US-Amerikaner, der die beiden Fußballer bei einer Flasche Whisky letztlich überzeugt, sich von ihrer Nationalmannschaft abzusetzen. In den Westen. Nachtweih und Pahl entscheiden sich: Wir versuchen es. Am nächsten Tag flüchtet das Duo in Istanbul in das Konsulat der Bundesrepublik. Der Rest ist deutsch-deutsche Fußballgeschichte.
In diesen Tagen hat Norbert Nachtweih, der erste DDR-Flüchtling, der in der Fußball-Bundesliga gespielt hat, seine Biografie veröffentlicht. „Zwischen zwei Welten: Meine deutsch-deutsche Fußballgeschichte - Jugend in der DDR. Republikflucht. Profi im Westen“, heißt sie. Und sie erzählt von einem Jungen aus dem Mansfelder Land in Sachsen-Anhalt, der durch Mut und glückliche Fügungen seinen Traum leben durfte.
Ein Abenteuer, so nennt Nachtweih selbst sein Leben. Ein Abenteuer, das ihn mit Uli Hoeneß zusammenbringt, mit Diego Maradona, mit Franz Beckenbauer und mit Zinédine Zidane. Und gegen dessen Ende auch Mannheim und der SV Waldhof eine wichtige Rolle spielen sollen.
In Cannes spielt Norbert Nachtweih in einem Team mit Zidane
Nach der obligatorischen Sperre von 14 Monaten legt Nachtweih, dieser technisch beschlagene Fußballer mit dem feinen Auge für Spielsituationen, bei Eintracht Frankfurt los. Eine erfolgreiche Zeit - mit dem UEFA-Pokalsieg 1980 gekrönt.
Die Profis heute können gar nicht mehr rausgehen, die werden abgeschirmt, kaserniert. Das würde mir so auf die Nerven gehen.
Aber auch eine wilde Zeit. „Nachtfalter“ tauft ihn damals der knorrige Eintracht-Trainer Gyula Lóránt und sagt dem „Spiegel“: „Der Nachtfalter kennt sich am Hauptbahnhof, wo die zweibeinigen Pferdchen herumlaufen, besser aus als auf dem Platz.“ Andere Zeiten. „Wir hatten ein schönes Leben. Das hat keinen interessiert“, sagt Nachtweih dieser Redaktion. „Die Profis heute können gar nicht mehr rausgehen, die werden abgeschirmt, kaserniert. Das würde mir so auf die Nerven gehen.“
Bayern München wird Anfang der 80er Jahre in Person von Uli Hoeneß auf den Mann aufmerksam, den man heute als Sechser bezeichnen würde, der aber auch flexibel in der Abwehr einsetzbar ist. An der Säbener Straße erlebt Nachtweih seine erfolgreichste Zeit als Profi. Viermal Meister, Finale im Europapokal der Landesmeister 1987, 1:2 gegen den FC Porto. 1989 zieht Nachtweih weiter, an die Cote d’Azur zum AS Cannes, wo er mit einem damals 20-jährigen Supertalent namens Zinédine Zidane zusammenspielt.
Norbert Nachtweih wechselt von Frankfurt zum SV Waldhof Mannheim
In Frankreich ist der Deutsche aber schnell nicht mehr glücklich, er steht kurz vor einem Wechsel zum VfB Stuttgart mit Trainer Christoph Daum. Aber als seine alte Liebe Eintracht Frankfurt anruft, entscheidet sich Nachtweih um. Bei der SGE läuft es im zweiten Anlauf aber auch nicht mehr rund. „In Frankfurt hatte ich leichten Stress mit Trainer Dragoslav Stepanovic. Mit ihm bin ich überhaupt nicht klargekommen. Das hat Klaus Toppmöller, damals Trainer beim Waldhof, mitbekommen und dann kam die Anfrage aus Mannheim“, sagt Nachtweih.
Norbert Nachtweih
- Norbert Nachtweih wurde am 4. Juni 1957 in Sangerhausen (heute Sachsen-Anhalt) geboren.
- 1976 nutzte er ein Spiel mit der U 21 der DDR im türkischen Bursa, um sich in den Westen abzusetzen.
- Mit Eintracht Frankfurt wurde der defensive Mittelfeldspieler 1980 UEFA-Cup-Sieger, mit dem FC Bayern viermal Meister. Zwischen 1991 und 1996 spielte er für den Waldhof Mannheim.
- „Zwischen zwei Welten: Meine deutsch-deutsche Fußballgeschichte - Jugend in der DDR. Republikflucht. Profi im Westen“, heißt seine Biografie. Erschienen bei Edel Sports, 22 Euro.
Am 1. Januar 1992 wechselt Nachtweih im Alter von 33 Jahren zum damaligen Zweitligisten SVW. Richard Wirth, Waldhof-Manager zu jener Zeit, sei ein „richtiges Urvieh“ gewesen. Die Vertragsgespräche hätten keine halbe Stunde gedauert. Für „10 000 netto“ im Monat sagte Nachtweih nach eigenen Angaben dem Waldhof zu. Das war zwar viel weniger als bei seinen vorherigen Vereinen, aber: „Ich wollte nicht pokern. Genauso wenig hatte ich Bock, irgendwelchen Erstligisten hinterherzurennen.“
Am Alsenweg auch mal einen Regenschirm abbekommen
Außerdem kann Nachtweih aus seinem Wohnort Frankfurt in die Kurpfalz pendeln. Aus der anfänglichen „Notlösung“ (Nachtweih) entwickelt sich eine Verbindung, die vier Jahre lang halten soll. „Ich habe mich super wohlgefühlt und es hat viel Spaß gemacht. Schade, dass wir nicht aufgestiegen sind. Wir haben das zweimal haarscharf verpasst“, sagt der heute 67-Jährige. In Erinnerung geblieben ist ihm vor allem ein 0:0 gegen den VfB Leipzig in der Saison 1992/93. „Wir hätten die nur zu Hause schlagen müssen und wären in der Bundesliga gewesen.“
Nachtweih hat viele positive Erinnerungen an diese Zeit. An das Seppl-Herberger-Stadion am Alsenweg - bis 1994 Spielstätte des SVW. „Mit dem Schirm haben die rüstigen Rentner dagestanden und wenn jemand nicht gehört hat, hat er gleich auf den Deckel bekommen.“ Zwischen den Trainingseinheiten ging es in die City, wo er sich mit Kollegen wie Tom Stohn oder Jörg Kirsten heiße Duelle am Billard-Tisch lieferte. Und abends natürlich ab und an ins „Tiffany“. Im Nachtleben hatte er bekanntlich einen Ruf zu verteidigen. „Mannheim selbst ist keine Perle wie Cannes, besitzt aber einen schönen Stadtkern. In den Planken heißt das“, schreibt er.
Es ist die Zeit, in der der SV Waldhof fast im Dreivierteljahresrhythmus seinen Trainer wechselt. Zu ersten Konflikten kommt es mit Uli Stielike, der 1994 am Alsenweg anheuert. „Der wollte mich weghaben“, sagt Nachtweih im Rückblick. „Er hat es so kompliziert gemacht. Da habe ich den Spruch geprägt: ,Irgendwann landet hier mal eine Zweimotorige.’ Weil so viele Hütchen auf dem Platz standen. Das sah aus wie ein Flughafen.“
Norbert Nachtweih nennt Schlappner im Buch einen Rassisten
Das sind aber noch milde Lästereien gemessen an dem scharfen Urteil, das Nachtweih über Klaus Schlappner fällt. Der Trainer der Jahre 1980 bis 1987 kehrt im März 1996 zum SV Waldhof zurück. Nachtweih ist zu diesem Zeitpunkt in Hennef, er macht die Trainer-A-Lizenz. Die Mannheimer stehen auf einem Mittelfeldplatz in der 2. Liga. „Ich habe nur von den anderen gehört, dass Schlappner eine Ansprache gehalten hat mit Sätzen wie: ,Ich lass’ mir doch von euch nicht meinen Verein kaputtmachen.’ So fing der an“, erzählt Nachtweih.
Als er zurück in Mannheim ist, gewinnt Nachtweih einen Eindruck von Schlappner, den er in seiner Biografie in drastischen Worte beschreibt. „Unter seinem bekannten Schlapphut war aber nicht viel. Wenn, dann vor allem brauner Mist. Schlappner, so habe ich das empfunden, war ein Rassist. Ein ganz, ganz schlimmer.“
Das macht Nachtweih an zwei Geschichten über seinen Waldhof-Kollegen Jonathan Akpoborie fest, der schon zu Schlappners Zeit in Saarbrücken vom Trainer gezwungen worden sei, Schneemänner zu bauen. „Mindestens einmal hat er ihn auch in die heiße Wanne gesteckt“, schreibt Nachtweih. Er habe die Angst in Akpobories Augen sehen können, „die er vor diesem Typen hatte“.
Seit 20 Jahren für die Fußballschule von Eintracht Frankfurt tätig
Im Jahr 1996, so schildert es Nachtweih, bittet ihn Schlappner zu einem Gespräch und fragt, ob er weitermachen oder seine Karriere beenden wolle. Nachtweih entscheidet sich fürs Aufhören. Er eröffnet ein Schuhgeschäft in Kaiserslautern, geht dann aber doch nach Frankfurt zurück, wo er seit nun 20 Jahren für die Fußballschule der Eintracht von Clubikone Charly Körbel arbeitet.
Mit seinem Leben ist er im Rückblick mehr als zufrieden. „Am 16. November 1976 musste ich mich entscheiden“, beschließt Nachtweih seine Memoiren. „Entweder für das eine Leben - oder das andere. Für eine von zwei Welten. Ich würde alles wieder genauso machen.“
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