Fußball - Vor dem Europapokal-Halbfinale gegen West Ham spricht Fan-Forscher Harald Lange über die besondere Verbindung zwischen den Anhängern und ihrem Verein in Frankfurt.

Fan-Forscher im Interview: „Bei Eintracht Frankfurt gehört Leiden dazu“

Von 
Alexander Müller
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30 000 Frankfurter Fans sorgten beim Europa-League-Viertelfinale in Barcelona für eine denkwürdige Stimmung. Das Foto stammt vom Placa de Catalunya. © Arne Dedert/dpa

Der nächste Frankfurter Fußball-Festtag steht bevor: Am Donnerstag (21 Uhr/RTL) tritt die Eintracht im Halbfinalhinspiel der Europa League bei West Ham United in London an. Mit der rauschenden Nacht von Barcelona (3:2) haben die Anhänger der Hessen international für Begeisterung gesorgt. Experte Harald Lange erklärt im Interview, was die Fankultur bei Eintracht Frankfurt so besonders macht.

Herr Lange, als 30 000 Fans von Eintracht Frankfurt eine denkwürdige Europapokal-Nacht in Barcelona feierten, schwärmten internationale Medien von den Vorzügen der deutschen Fußballkultur, vor allem der ungebrochenen Wucht der großen Traditionsvereine. Ist die Eintracht auch für Sie ein Vorbild, wie man es schaffen kann, die Fans im Milliardengeschäft Profifußball weiter emotional an einen Verein zu binden?

Harald Lange: Wenn Sie so fragen, setzt das voraus, dass es von irgendjemandem gesteuert wird. Das ist ein schmaler Grat, weil man dann in eine Richtung der Kundenbindung mit irgendwelchen Marketing-Rezepten abdriften kann. Die entscheidende Frage ist: Steckt da eine Strategie dahinter? Ich glaube eher nein. Was ich wahrnehme: Die gesamte Vereinsführung und der gesamte Mitarbeiterstab sind im Vergleich zu anderen Clubs durch und durch authentisch. Er spricht den Fans und den Menschen auf der Straße aus der Seele. Das Ganze gipfelt in dem Präsidenten …

… Peter Fischer, der als Mann des Volkes gilt?

Lange: Ja, der ist sowas von bodenständig, ein echter Typ. So einen Präsidenten braucht so ein Club, damit man sich als Einheit, quasi als Eintracht, fühlen kann. Fischer sagt, was er denkt. Und das passt perfekt zur Fankultur und Tradition von Eintracht Frankfurt.

Fischer ist dafür bekannt, auch politisch klar Stellung zu beziehen. Am Samstag im ZDF-Sportstudio bezeichnete er Russlands Diktator Wladimir Putin als „asozialen Psychopathen“. Auch als Fischer sagte, es sei nicht mit den Werten der Eintracht vereinbar, AfD zu wählen, sorgte das für Schlagzeilen. Wie wichtig finden Sie, dass ein Verein sich auch in politischen und gesellschaftlichen Fragen klar positioniert - selbst auf die Gefahr hin, den einen oder anderen Anhänger vor den Kopf zu stoßen?

Lange: Das ist total spannend. Das darf man als Verein oder Präsident nur dann machen, wenn man auch wirklich Werte hat. Und nicht nur irgendwelche Werte für eine Broschüre. Wenn man dann AfD-Wähler ausschließt, ist das authentisch. Dieses Wertethema ist seit einigen Jahren hoch im Kurs, aber auch ambivalent. Das Negativbeispiel ist für mich die UEFA bei der vergangenen EM, als die Münchner Arena beim Spiel Deutschland gegen Ungarn nicht in Regenbogenfarben angestrahlt werden durfte. Mit der lächerlichen Floskel als Begründung, dass die Politik aus dem Stadion gehalten werden muss. Das zeigte, dass es nur Werte für die Galerie waren. Bei Eintracht Frankfurt spricht dagegen vieles dafür, dass die Werte, für die man eintritt, auch authentisch und glaubwürdig sind.

War ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang auch, wie die Eintracht nach dem rechtsextrem motivierten Mordanschlag in Hanau 2020 mit vielen mitfühlenden Aktionen Solidarität mit den Opfern gezeigt hat?

Lange: Für einen Verein wie Frankfurt, in dessen Kerngebiet die Tat ja geschehen ist, ist es selbstverständlich, dass man da einfühlsam reagiert. Die Eintracht hat sich aber auch abseits der Öffentlichkeit über ihre Fankultur engagiert. Das ist etwas, was man von dem Verein erwartet, und was auch eingelöst wird.

Fan-Forscher Harald Lange

  • Harald Lange (53) ist seit 2009 Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, Gründer des Instituts für Fankultur e.V. und Dozent an der Trainerakademie des DOSB in Köln.
  • Zuvor war er unter anderem Professor für Sportpädagogik an einer Pädagogischen Hochschule (2002-2009) und Gastprofessor an der Uni Wien (2008-2009).
  • Er lebt in Nordhessen.
  • Lange hat in seiner Karriere über 250 wissenschaftliche Arbeiten publiziert – davon mehr als 50 Bücher und Sammelwerke.

Selbstverständlich ist auch Eintracht Frankfurt längst ein mittelständischer Fußballkonzern, der sich den Regeln eines knallharten Geschäfts unterwirft und in einem Stadion mit dem Namen Deutsche Bank Park spielt. Wie schafft es der Verein, den Spagat zwischen Kommerz und Fan-Nähe zu meistern?

Lange: Das ist die Kernaufgabe für das Management. Die Eintracht hatte natürlich auch ein bisschen Glück, dass es international mit der Europa League seit einigen Jahren extrem gut läuft. Darüber hat der Verein ein neues Image gefunden, konnte sich durch die Einnahmen von den Mittelfeldplätzen der Bundesliga absetzen und eine unfassbare Fanbindung generieren. Die Erfolge in Europa sind der Motor für den wirtschaftlichen Erfolg, für das Erschließen neuer Fankreise und das Kreieren eines Images. Das hat man aufgegriffen und macht was Gutes draus. Die Eintracht überzieht aber auch nicht, in dem sie das zu sehr kommerzialisiert. Ich wohne in Nordhessen bei Kassel und erlebe, wie die Fankultur in einem großen Einzugsgebiet wächst und wächst.

Was zeichnet die Eintracht- Anhänger denn aus?

Lange: Das sind keine klassischen Erfolgsfans. Die Eintracht hat eine gewachsene Fankultur, die über eines verfügt: Zum Fansein gehören das Leiden und die Leidenschaft dazu. In der Niederlage bekommt die Fanbindung erst ihre Qualität. Sie bleiben sogar dabei, wenn der Verein mal absteigt. Das hinterlässt Spuren in der Fankultur und ist etwas extrem Wertvolles. Das macht den Club auch für Sponsoren hochattraktiv. Das sind die Kronjuwelen, die die Eintracht besitzt.

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Kann man eine Fankultur wie in Frankfurt über die Jahre auch an anderen Standorten aufbauen? Anders gefragt: Könnten der VfL Wolfsburg oder RB Leipzig das schaffen?

Lange: Theoretisch kann man das mit einem Zeithorizont von, sagen wir, 20 Jahren probieren - auch wenn man Frankfurt als Blaupause sicher nicht kopieren, sondern nur als Orientierung nehmen kann. Aber Leipzig? Rasen-Ball, das ist an Lächerlichkeit nicht mehr zu steigern. Das ist quasi die PR-Abteilung eines Getränkeherstellers. Da ist es ausgeschlossen, das würde immer als Mogelpackung wahrgenommen.

Während in England ein saudi-arabisches Konsortium Newcastle United übernimmt, baut die Eintracht 11 000 neue Stehplätze im eigenen Stadion. Zeigt dieses Beispiel, welchen Weg der deutsche Profifußball gehen sollte, um eine dauerhaft funktionierende Nische zu besetzen?

Lange: Auf jeden Fall. In Deutschland ist es super attraktiv, auf die Fankultur zu setzen, weil sie hierzulande überall überdurchschnittlich ausgeprägt ist. Das ist ein richtiges Pfund. Die Eintracht hätte statt Stehplätzen auch tolle Logen bauen können, die wäre man sicher auch losgeworden. Man hätte auch die Preise anheben können. Aber 11 000 neue Stehplätze - das ist schon eine tolle, gigantische Botschaft. Das passt zu Eintracht Frankfurt und wird das Image des Vereins massiv aufwerten.

Zum Abschluss: Am Donnerstag tritt die Eintracht zum Halbfinalhinspiel der Europa League bei West Ham United in London an. Ist sogar der Einzug ins Endspiel drin?

Lange: Da bin ich mir sicher. Nach dem Spiel in Barcelona weiß man: Es kann alles passieren. Ob in London nur 3000 Fans reinkommen, das glaube ich nicht. Aber selbst dann, werden die 3000 Stimmung für mindestens 30 000 machen. Und die Mannschaft wird sich bis ins Letzte reinknien. Ich sehe die Frankfurter klar als Favoriten, weil sie auch erfahren im Umgang mit solchen Situationen sind. Wenn es ein Verein aus der Bundesliga schafft, dann doch wohl Eintracht Frankfurt.

Redaktion Fußball-Reporter: Nationalmannschaft, SV Waldhof, Eintracht Frankfurt, DFB

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