Stefan Kretzschmar ist zwiegespalten. Die Handball-Ikone spricht einerseits von einer „Einstellungssache“ und einer „Frage der Mentalität“, wenn er über die Absagen einiger deutscher Nationalspieler für die Europameisterschaft in Ungarn und der Slowakei spricht. Andererseits versteht er auch die Gründe für das freiwillige Fernbleiben. Fabian Wiede meldete sich im Dezember aus persönlichen Gründen ab, Patrick Groetzki hatte schon zuvor erklärt, dass er wegen der Geburt seines dritten Kindes nicht zur Verfügung steht. Und Hendrik Pekeler legt eine Pause in der Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) ein. Auf die WM im vergangenen Jahr hatte der Kieler wie auch der mittlerweile zurückgetretene Steffen Weinhold und der diesmal mitwirkende Patrick Wiencek verzichtet.
Beim Verband sorgt das wachsende Desinteresse am DHB-Team, das am Freitag (18 Uhr) gegen Belarus ins Turnier startet, seit einiger Zeit für Verstimmung. „Es werden zum Teil Turniere nicht besucht oder Nationalmannschaftskarrieren frühzeitig beendet, während im Verein die Leistungshöhepunkte noch häufig kommen. Das gefällt uns nicht“, machte Sportvorstand Axel Kromer schon vor der EM-Vorbereitung seinem Ärger Luft.
Um zu verstehen, warum manch ein Star auf die Nationalmannschaft verzichtet, muss man allerdings auch um die immense Belastung wissen. Insbesondere für die Profis, deren Vereine in den aufgeblähten Europapokal-Wettbewerben dabei sind. Wer im Jahr 2020 EM-Qualifikation, WM, Olympische Spiele, Champions League oder Europa League und Bundesliga gespielt hat, kommt auf rund 80 Einsätze und knapp drei bis vier Wochen Pause. Wohlgemerkt nicht am Stück, sondern über zwölf Monate verteilt. Ein Mammutprogramm, das auch Bundestrainer Alfred Gislason kennt.
Der Isländer hat diese unbarmherzige Knochenmühle jahrelang als Vereinstrainer beim THW Kiel erlebt, weshalb er bei aller „Enttäuschung“ über die Absagen auch genau um das Problem weiß: „Fast alle Deutschen stehen in der Bundesliga unter Vertrag. Nirgendwo ist der Wettbewerb härter. Die Jungs müssen echt viele Spiele bestreiten, selbst nach Weihnachten noch. Da sind andere Ligen längst in der Pause. In Kombination mit der Tatsache, dass abwechselnd jedes Jahr eine WM und eine EM ausgetragen wird, ist es dann am Ende eine Frage der Regeneration.“ Und auch des Geldes, wie der ehemalige deutsche Weltklasse-Torwart Henning Fritz anmerkt: „Handballprofi ist ein Beruf – und zwar ein zeitlich begrenzter. Die Gehälter bezahlen die Vereine. Und wenn der Verschleiß zu groß ist, gibt es keinen neuen Vertrag.“
Der ehemalige Bundesligatrainer Ljubomir Vranjes, der große Erfolge in Flensburg feierte und jetzt bei der EM die slowenische Auswahl betreut, teilt diese Einschätzung – obwohl er eigentlich nur ein „gebrochenes Bein“ für eine Turnierabsage akzeptiert, wie der Schwede scherzhaft anmerkt. „Alle wollen für ihre Nationalmannschaft spielen. Aber es gibt so viele Spiele. Und dann ist es einfach, die Nationalmannschaft abzusagen, weil der Verein ist dein Arbeitgeber“, sagte er im Podcast „Hand aufs Harz“ und plädierte dafür, nicht jedes Jahr eine EM oder WM auszutragen.
Dass aber genau das passiert, ist in etwa so wahrscheinlich wie der Klassenerhalt von der Spielvereinigung Greuther Fürth in der Fußball-Bundesliga. Denn das Phänomen mit der hohen Belastung im nationalen Wettbewerb ist ein rein deutsches Problem, wie Gislason anmerkt, weshalb der Bundestrainer schon mehrfach eine Verkleinerung der Bundesliga von 18 auf 16 Teams anregte. Dass aber genau das passiert, ist in etwa so wahrscheinlich wie eine Europapokal-Qualifikation von der Spielvereinigung Greuther Fürth, weshalb es keine Aussicht auf Besserung gibt.
Der langjährige Nationalmannschaftskapitän Uwe Gensheimer, der 2021 seine Karriere im DHB-Team beendete, kennt diesen ewigen Konflikt genauso wie die Strapazen, die der Weltklasse-Linksaußen von den Rhein-Neckar Löwen aber nie scheute. Und zwar, weil er das große Ganze sah, wie der Mannheimer nach seinem Rücktritt dieser Redaktion sagte: „Die Nationalmannschaft bei einem Turnier bietet dem Handball nun mal die größte Bühne. Bei keiner anderen Gelegenheit erreichen wir mehr Menschen mit unserem Sport. Insofern empfand ich es auch als Verpflichtung, bei Länderspielen und Turnieren nicht nur mein Land, sondern auch den Handball zu vertreten.“
Eine Sichtweise, die viele ausländische Bundesligaprofis übrigens teilen. Weshalb sie trotz der Schinderei im deutschen Club-Alltag gerne zu ihren Nationalteams reisen. Kretzschmar sieht da einen großen Unterschied in der Herangehensweise. „Die Skandinavier treten nach einer Einladung die Reise zur Nationalmannschaft mit einem Lächeln und mit Freude an. Für diese Jungs gibt es nichts Größeres.“ Und bei den Deutschen? „Da habe ich manchmal schon das Gefühl, dass da manch einer eine Nationalmannschaftseinladung umgehend mit dem Thema Belastung assoziiert.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Gislason muss Spagat meistern