Stuttgart/Mannheim/Frankfurt. Dass Ernst Nonnenmacher Körbe flechten kann, rettet ihm vermutlich das Leben. Im Steinbruch des KZ Flossenbürg ist der Häftling eigentlich zur „Vernichtung durch Arbeit“ bestimmt. Weil die SS dringend Körbe für den Transport von Munition braucht, wird er 1942 ins Konzentrationslager Sachsenhausen verlegt und überlebt.
Ins KZ haben den Anfang 30-Jährigen meist kleinere Diebstähle gebracht. Mal klaut er Wäsche von der Leine, mal Essen in der Markthalle oder einer Bäckerei und auch Gepäck am Bahnhof. Zwei Jahre Zuchthaus bekommt er allein wegen seiner Beziehung zu einer Frau, die als Prostituierte arbeitet und wegen „Unzucht“ vor Gericht kommt. Ernst wird der Zuhälterei bezichtigt, weil sie für ihn eingekauft hat.
Wanderausstellung
- Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas entwickelt die Wanderausstellung über im Nationalsozialismus als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgte: www.die-verleugneten.de
- Infos über den geplanten „Verband der Angehörigen der ignorierten Opfer des Nationalsozialismus“ gibt Nonnenmacher über seine E-Mail-Adresse fnoma@gmx.de.
Die Strafe sitzt er bis zum letzten Tag in Mannheim ab und wird direkt im Anschluss nach Flossenbürg gebracht. Die Nazis stufen ihn als „Asozialen“ ein und kennzeichnen ihn mit dem schwarzen Dreieck auf der Häftlingskleidung. Später bekommt er das grüne Dreieck für „Berufsverbrecher“.
Lange nicht im Blick der Forschung
Obwohl Menschen wie Ernst in den Lagern als „Kriminelle“ besonders grausam behandelt wurden, scheitert nach dem Krieg sein Antrag auf Entschädigung. Die KZ-Haft von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ gilt damals nicht als Unrecht. Sogar andere Opfergruppen wie die politisch Verfolgten gehen auf Distanz zu ihren früheren Leidensgenossen.
Selbst die Forschung sieht viele Jahrzehnte über die beiden Gruppen hinweg. Inzwischen rechnen Wissenschaftler mit 70 000 Betroffenen, von denen ein Drittel im KZ umkam. „Es ist 70 Jahre Verleugnung gepflegt worden“, kritisiert Frank Nonnenmacher, der Neffe von Ernst. Der emeritierte Professor für Didaktik kämpft seit Langem für die Anerkennung der „vergessenen“ Opfer.
2020 schließlich hat der Bundestag die beiden KZ-Häftlingsgruppen als Verfolgte anerkannt. Das feiert Nonnenmacher zunächst als „Meilenstein“. Mittlerweile ist er ernüchtert, da die zugesagten Gelder ausbleiben.
Weil es keine Überlebenden mehr gibt, sucht Frank Nonnenmacher Mitstreiter für die Gründung eines Verbands der Nachkommen von sozialrassistisch Verfolgten. 30 Kinder oder Enkel von NS-Opfern haben sich für die Versammlung Mitte Januar angemeldet. Manchen fällt die Auseinandersetzung nach Nonnenmachers Erfahrung auch noch immer schwer: „Die Scham derer, die die Nazis als asozial und unheilbar kriminell brandmarkten, wirkt bei den Überlebenden teils bis heute.“
Erst im hohen Alter erzählt er seine Geschichte
Auch Nonnenmachers Onkel Ernst schweigt viele Jahrzehnte. „Sie hatten die Vorwürfe verinnerlicht und glaubten, als ‚echte Verbrecher’ im KZ gewesen zu sein“, erklärt der Neffe. Dabei ist Ernst nach dem Krieg ein kritischer Zeitgeist. Er lässt er sich in Mainz nieder, heiratet, wird Straßenbauer und ist in der damals linken Gewerkschaft Bau-Steine-Erden aktiv. Der Liedermacher Konstantin Wecker widmet dem überzeugten Antimilitaristen sein Lied vom „Sturmbannführer Meier“.
Erst im hohen Alter erzählt Ernst seinem Neffen die Geschichte. Zusammen mit seinem Bruder durchlebt er in Stuttgart den Ersten Weltkrieg in extrem ärmlichen Verhältnissen. Die Mutter, von den verschiedenen Vätern der Söhne verlassen, bringt ihre Familie als Büglerin durch. Ernsts Karriere als mehrfach vorbestrafter Kleinkrimineller sieht Nonnenmacher als „logische Folge der sozialen Verhältnisse“. Den Bruder Gustav bringt die staatliche Fürsorge ins Waisenhaus, er kann eine Lehre als Holzbildhauer machen und wird im Zweiten Weltkrieg ein hochdekorierter Kampfflieger.
Später lässt er sich in Worms als Bildhauer nieder. Die unterschiedlichen Startvoraussetzungen greift Frank Nonnenmacher im Titel seiner über Vater und Onkel verfassten Doppelbiografie auf („Du hattest es besser als ICH“).
Ganz gezielt haben die Nazis die kleinkriminellen „Berufsverbrecher“ ins KZ geworfen. Zu den „Asozialen“ zählen sie Obdachlose, Bettler, Prostituierte, Alkoholkranke und manchmal einfach Unangepasste. Die NS-Ideologie geht davon aus, dass solche Menschen aufgrund ihrer „kriminellen Gene“ immer wieder Straftaten begehen.
Wanderausstellung konzipiert
Frank Nonnenmacher kämpft an gegen diese Stigmatisierung, die sich in die Nachkriegszeit übertragen hat. Die späte formale Rehabilitierung durch den Bundestag reiche nicht. Der nun geplante Verband der Nachkommen soll beiden Opfergruppen „einen angemessenen Platz im öffentlichen Erinnern verschaffen“.
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Für einen ersten Schritt hat noch die damalige Kultur-Staatssekretärin Monika Grütters (CDU) gesorgt: 1,4 Millionen Euro stehen für die Entwicklung einer Wanderausstellung über das Schicksal dieser Häftlingsgruppen zur Verfügung. Nun sieht Nonnenmacher vor allem SPD und Grüne der Ampelkoalition in der Pflicht, Geld für weitere Forschungen bereitzustellen.
Als ein Thema nennt er die Rolle der Polizei beim Aufgreifen der Menschen und ihre Überstellung an die SS. Notwendig seien auch Bildungsprojekte. Sonst könnten die „vergessenen Opfer“ der Nationalsozialisten noch einmal in Vergessenheit geraten.
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