Mit dem totalen Krieg in die totale Katastrophe

Die erste Hälfte der 1940er Jahre ist auch für Mannheim durch Terror und Zerstörung geprägt. Zur Mitte jenes Jahrzehnts ist die Quadratestadt eine Trümmerwüste

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Im Sommer 2022 startet das Institut für Demoskopie in Allensbach eine Umfrage. Auf die Frage, welches historische Ereignis der letzten 100 Jahre ihre Familie am stärksten geprägt habe, nennen (gerundet) 37 Prozent der Westdeutschen den Zweiten Weltkrieg, 34 Prozent den Wiederaufbau nach 1945 und 32 Prozent die Wiedervereinigung, die bei den Ostdeutschen mit 64 Prozent naturgemäß an erster Stelle rangiert.

Der Krieg prägt viele Deutsche also bis heute. Und nicht nur die unmittelbaren Opfer und Täter, die großteils lange verstorben sind, sondern sogar ihre Enkel und Urenkel; „transgenerationelle Traumata“ nennt die Psychologie dieses Phänomen, dessen Bedeutung erst allmählich in vollem Umfange erkannt ist. Für unsere Nachbarn in Europa ist der Krieg ohnehin bis heute unvergessen.

Er beginnt vier Monate, bevor das neue Jahrzehnt startet: Am 1. September 1939 verkündet Hitler im Reichstag: „Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen.“ Eine Lüge: Es wird nicht zurückgeschossen, sondern angegriffen. Deutschland überfällt Polen – gemäß einem Plan, den Hitler bereits bei seiner Machtübernahme 1933 formuliert: für das deutsche Volk „Lebensraum im Osten schaffen“.

Krieg von langer Hand vorbereitet

So kann der Kriegsausbruch nicht überraschen. „Die Hitler-Regierung hat nicht nur konsequent eine schlagkräftige Armee aufgebaut“, schreibt Historiker Michael Caroli in der Stadtchronik zum 400. Jubiläum Mannheims 2007: „Auch die Bevölkerung war seit Jahren durch Luftschutzübungen auf einen möglichen Krieg eingestimmt worden.“

Gleichwohl: Anders als 1914 ist von Kriegsbegeisterung auch in Mannheim wenig zu spüren. Zu frisch sind die Erinnerungen an das Leiden nur 20 Jahre zuvor. Doch als Polen nach nur 18 Tagen besiegt wird, sogar die Kolonialmacht Frankreich bereits nach sechs Wochen im Juni 1940 kapituliert, da kommt doch Genugtuung, ja Euphorie auf, kehrt Normalität ein. Das Nationaltheater etwa absolviert seine reguläre Spielzeit. Aber im Repertoire fehlen progressive Stücke, stattdessen erklingen Werke von Hitlers Idol Richard Wagner zum Überdruss.

Von ferne zeigen sich Vorboten dessen, was kommen wird. Schon eine Woche nach Kriegsbeginn, am 8. September 1939, hat Mannheim den ersten Gefallenen zu verzeichnen, einen Studienassessor aus dem Karl-Friedrich-Gymnasium. Am 26. September erscheinen in der „Neuen Mannheimer Zeitung“ die ersten jener Inserate in schwarzem Rahmen und mit Eisernem Kreuz, die bald ganze Seiten füllen. Mehr als 12 000 Mannheimer sterben an den Fronten oder in Kriegsgefangenschaft.

Auch auf das eigene Land schlägt der Krieg zurück, den Hitler in die Welt trägt. Was zuvor Warschau, Rotterdam und Coventry zu erleiden haben, das trifft nun auch Mannheim: In der Nacht zum 5. Juni 1940 fallen erste Bomben. Viele werden folgen, etwa 2200 Zivilisten tot sein. „Wollt Ihr den totalen Krieg?“, brüllt Goebbels 1943 im jubelnden Berliner Sportpalast. Für die ausgebombten Mannheimer klingt das wie Hohn.

Das Leben in der Stadt am Laufen zu halten, wird immer schwieriger. So verfällt das Regime auf Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. 7,6 Millionen sind bis Kriegsende im Reich im Einsatz, weit über die Hälfte aus der Sowjetunion und Polen, 1,25 Millionen aus Frankreich und jeweils eine viertel Million aus Belgien und den Niederlanden. Junge Männer und Frauen, willkürlich ihrer Heimat und ihren Lieben entrissen.

Um die 30 000 sind phasenweise in Mannheim im Einsatz – unter unsäglichen Bedingungen. Mehr als 600 Firmen beschäftigen Zwangsarbeiter, vom renommierten Großunternehmen bis zur kleinen Gärtnerei. Beim Benz stellen sie 1944 mit 1300 Arbeitskräften ein Drittel der Belegschaft, viele von ihnen untergebracht im Stadtteil Sandhofen, in einer Außenstelle des KZ Natzweiler-Struthof (Elsass).

Hinter der von der Wehrmacht gehaltenen Front vollzieht sich der Massenmord an den Juden – Höhepunkt eines kontinuierlichen Prozesses, der unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis 1933 beginnt: Diskriminierung, Entrechtung, Ausplünderung, Ermordung.

Im Oktober 1940 erfolgt die Deportation der noch in Mannheim lebenden Juden – ausgenommen zunächst jene, die mit Nicht-Juden verheiratet sind. Eines Morgens stürmen Angehörige von regulärer Polizei, Gestapo, SA und SS ihre Wohnungen. Die Menschen haben nur zwei Stunden Zeit, um sich an den Sammelstellen einzufinden, mit höchstens 50 Kilogramm Gepäck. Die Wohnung, ihr Hab und Gut, es bleibt zurück, zur Bereicherung ihrer Nachbarn.

2131 Mannheimer Juden werden mit den übrigen aus Baden und der Pfalz, zusammen 6500 Menschen, auch Kinder und Greise, in das Internierungslager Gurs in den Pyrenäen verschleppt. Wer nicht schon hier umkommt, endet in den Vernichtungslagern im Osten. Insgesamt liegt die Zahl der Mannheimer Opfer des Holocaust laut Marchivum bei mehr als 2500 Menschen. Den „Euthanasie“-Morden wiederum fallen über 1000 Mannheimer zum Opfer.

Doch noch immer gibt es auch Menschen, die sich dem NS-Terror widersetzen. Vor allem die nach dem kommunistischen Stadtrat und Landtagsabgeordneten Georg Lechleiter benannte Gruppe. Ohne Gewalt, mit Flugblättern, kämpfen ihre Aktiven gegen das Regime, werden 1942 hingerichtet. Der NS-Terror läuft bis zum bitteren Ende: Kurz vor Eintreffen der US-Armee ermorden Polizisten in den Lauerschen Gärten drei Männer, die am Kaufhaus Vetter in N 7 die weiße Fahne hissen.

1945 Ende, aber keine „Stunde Null“

Ende März 1945 besetzt die US-Armee Mannheim – als in Berlin Hitler noch letzte ebenso sinnlose wie mörderische Befehle aussendet, bis er sich am 30. April seiner irdischen Verantwortung entzieht. Acht Tage später endet der Krieg – in Europa. Im Pazifik dauert er bis zum Abwurf der Atombomben auf Japan im August. Hätten solche auch auf Deutschland erfolgen sollen, so sind die Ziele bereits ausgeguckt: Unter ihnen wäre, wie ZDF-Chefhistoriker Guido Knopp 1999 im Pentagon entdeckt, der Raum Mannheim/Ludwigshafen.

Die Bilanz für die Stadt ist auch so verheerend: Von 87 000 Wohnungen sind nur 17 Prozent unbeschädigt. Vom Hauptbahnhof herrscht, wie ein Kriegsheimkehrer bei der Ankunft bissig formuliert, „freie Sicht bis nach Käfertal.“

Eine „Stunde Null“ ist es dennoch nicht. „Es gab keine Stunde Null“, sagt Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner legendären Rede vom 8. Mai 1985. Vom Heer der Mitläufer wird dieser Begriff erfunden, um personelle Kontinuität in Wirtschaft, Verwaltung, Justiz und Polizei zu verschleiern.

Eine Folge ist die lange ausbleibende Vergangenheitsbewältigung. Erst in den 1970er Jahren kommt die Aufarbeitung in Gang, auch dank der US-Fernsehserie „Holocaust“ 1979. Es entstehen Orte des Erinnerns, in Mannheim die KZ-Gedenkstätte in Sandhofen 1990 oder der Glaskubus für die Holocaust-Opfer auf den Planken 2003, auf Bundesebene das Holocaust-Mahnmal in Berlin 2005. Notwendig erscheint dies mehr denn je. Wie mahnt Bert Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch.“

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