Es ist, als würde man das Beben des Bodens spüren. Sirenen heulen, Bomben fallen, Jagdbomber kreisen, die Flak feuert, es donnert, es kracht, Lampen flackern wegen des Stromausfalls, kurz ist alles dunkel. Und wer hier herauskommt, sieht lodernde Flammen, einstürzende Gebäude, Trümmer. Die Beklemmung, die Angst der Nächte während der Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs wird überdeutlich im sogenannten Bunkerraum, dem Auftakt der Ausstellung, der die Frage hinterlässt: Wie konnte das alles passieren?
Ein kleiner Junge erzählt da, wie er rennen muss, um bei einem Alarm den rettenden Schutzraum zu erreichen, und wie eng es dort ist. Und eine Frau, dass sie den grausamen Anblick eines jungen Mannes, der noch kurz vor Kriegsende von einem Flieger getötet wird, nie wird vergessen können. Dann kommen ihr die Tränen, es stockt ihre Stimme. So wird gleich in diesem ersten Raum mit aufwendiger, dreidimensionaler Projektion sowie Stimmen von Zeitzeugen Betroffenheit erzeugt. Aber es wird auch klar, was die großen Stärken dieser Ausstellung sind: Die gewaltige Bildersprache, ob bei Filmen oder Fotos, aber auch die Authentizität der Beiträge jener Menschen, welche die Zeit erlebt, ja erlitten haben.
Ein Jahr nach Eröffnung der großen Stadtgeschichtlichen Ausstellung ist damit ein, wie es Stadträtin Helen Heberer als Vorsitzende des Freundeskreis Marchivum ausdrückt, „weiterer Meilenstein“ erreicht, aus dem Ochsenpferchbunker ein Haus der Stadtgeschichte und Erinnerung zu machen.
„NS-Dokumentationzentrum“ – unter diesem Arbeitstitel lief das Projekt bisher, aber entstanden ist viel mehr. „Es ist eine multimediale Ausstellung, die Nachdenklichkeit erzeugen will“, formuliert es Marchivum-Direktor Ulrich Nieß. Nicht ohne Grund lautet der Titel „Was hat das mit mir zu tun?“ Denn das Marchivum-Team begrenzt sich nicht auf die Zeit von 1933 bis 1945, sondern spannt den Bogen viel weiter, vom Ende des Ersten Weltkriegs 1918 bis zur Gegenwart.
Dabei ist die Ära der Weimarer Republik nicht nur eine dunkle Zeit für Mannheim. „1924 bis 1930 sind die Goldenen Jahre einer kulturellen und sozialen Blüte und vieler Errungenschaften“, so Nieß, doch im Strudel der Weltwirtschaftskrise geht all das ganz schnell verloren, weil sie als Nährboden für Verführer wirkt.
Dann 1933, der Einschnitt – das Jahr der sogenannten Machtergreifung. Plötzlich ist die parlamentarische Demokratie zu Ende. Hier begegnet der Besucher sechs Biografien von Mannheimern, von Schauspielern verkörpert, aber authentisch das schildernd, was sie erlebt haben – ob die Jungschar plötzlich in die Hitlerjugend überführt wird oder die Frau des NSDAP-Kreisleiters enthusiastisch schildert, wie sie bedürftige Parteigenossen mit Essen versorgt und endlich mit dem „roten Terror aufgeräumt“ wird. Ja, denn auch Täter kommen zu Wort! Und die Bilder sowie Berufe plötzlich zu Hilfspolizisten ernannter Männer machen sichtbar, wie geschickt sich der Machtapparat auf sehr weite Kreise stützen kann.
Zeiten und Preise
Eröffnung: Während des Eröffnungswochenendes vom Freitag, 2. Dezember, bis einschließlich Sonntag, 4. Dezember, jeweils 10 bis 18 Uhr, ist die Ausstellung kostenfrei zugänglich, die Lesesäle für Bauakteneinsicht und stadthistorische Forschung daher geschlossen.
Öffnungszeiten: Nach der Eröffnung dann Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr und Mittwoch 10 bis 20 Uhr.
Führung: Sonntags findet um 16 Uhr eine öffentliche Führung statt.
Eintritt: Sieben Euro, ermäßigt 3,50 Euro, Schulklassen zwei Euro pro Person, Familien zehn Euro für zwei Erwachsene und Kinder. Es handelt sich um ein Kombiticket mit der Stadtgeschichtlichen Ausstellung im Erdgeschoss.
Macher: Kuratoren waren Marco Brennneisen, Christian Groh, Ulrich Nieß, Sebastian Steinert und Karen Strobel, Projektkoordinatorin Silvia Köhler. Die Gestaltung übernahm die Berliner Arbeitsgemeinschaft Tatwerk/finke.media mit dem kanadischen Medienspezialisten und Künstler Stacey Spiegel.
Sponsoren: Alfred Landecker Foundation (Familie Reimann), Heinrich-Vetter-Stiftung, Freundeskreis Marchivum und Baden-Württemberg-Stiftung. pwr
Der mit Hakenkreuzfahnen sowie einem Spruchband versehene Wasserturm, eine großflächige Marschierszene – wieder sind es Bilder, die nun bedrückend verdeutlichen, woher der Wind und wie scharf er weht. Gleichschaltung ist das Zauberwort 1933. Einerseits wird alles für den Zusammenhalt der nun neudefinierten Volksgemeinschaft getan, der Sport instrumentalisiert, die Vereinsvielfalt und das ganze bisher bestehende Leben dem untergeordnet und ritualisiert – etwa bei den „Pimpfen“, der Hitlerjugend oder dem Bund Deutscher Mädel (BDM).
Aber wer nicht dazugehört, wird diffamiert, erniedrigt, ausgegrenzt. Alles sehr perfide, aber „nur“ die Vorstufe zur endgültigen Vernichtung. Ein paar Meter, die man über ein paar Glasplatten läuft, unter denen Scherben liegen – sie sind mit die eindrücklichste Stelle. Man denkt fast, das zerbrochene Glas würde gleich knirschen. Es ist die optische Darstellung dessen, was die Nazis „Reichskristallnacht“ nennen, jenen angeblichen Sturm des „Volkes“, der aber völlig inszeniert ist, auf jüdische Geschäfte und Einrichtungen im November 1938.
Exemplarische Biografien stehen für den 22./23. Oktober 1940, als alle pfälzischen und badischen Juden nach Gurs deportiert werden – und von dort in Vernichtungslager. Doch die Ausstellung macht ebenso die Täter sichtbar. Und auch wenn es aus Mannheim keine Fotos gibt, sondern nur aus Ludwigshafen – es ist klar erkennbar, dass das alles nicht im Verborgenen geschehen ist, sondern vor aller Augen.
Und nicht nur Juden nehmen die Nazis ins Visier. Die NS-Herrschaft radikalisiert sich weiter, der Terror wird stärker und umfasst Sinti, Roma, Homosexuelle. Der brutale Umfang mit Zwangsarbeitern, die Terrorjustiz des NS-Sondergerichts, das für Bagatelldelikte die Todesstrafe verhängt, und die Entdeckung sowie Hinrichtung der Mannheimer Widerstandsgruppe um Georg Lechleiter – die Ausstellung verdichtet das derart, macht das Klima der Repression und Denunziation so nachvollziehbar, dass das alltägliche Grauen erfahrbar, ja spürbar ist.
Der totale Krieg, der dann Mannheim erfasst – er lässt sich nicht nur anhand der Filme und der Beklemmung im Bunkerraum am Eingang nochmal erleben. Interessant ist auch ein Pult: Hier kann sich jeder Ausstellungsbesucher durch viele Karten klicken und Stadtteil für Stadtteil, Straßenzug für Straßenzug nachsehen, was wie stark alles durch die Bombenangriffe zerstört war.
Solche Stationen für vertiefende Informationen findet man zu fast jedem Thema. Ob Opfer oder Täter, Bilder oder Dokumente – überall führt ein Klick zu einem größeren Angebot, führen weitere Klicks zu noch mehr Inhalten, stellt ein Zeitstrahl sehr gut den Bezug zwischen Weltgeschichte und lokalen Ereignissen her. Um alles zu lesen, braucht man sicher Tage. Aber neben der ansprechenden, modernen, emotional berührenden, ja teils sogar künstlerisch-ästhetischen Optik ist das eine weitere Stärke des Konzepts – die konsequente interaktive Aufbereitung und Erschließung des Themas. So gibt es allein 5000 Fotos zur Nachkriegszeit, die sich alle anklicken lassen und die mehr Infos zu einem breiten Kaleidoskop des Lebens nach 1945 bieten, vom Wiederaufbau bis zu den Nachtclubs.
Denn die Ausstellung endet nicht mit der Besetzung durch die US Army. Das, was diese Entnazifizierung und Re-Demokratisierung nennt, thematisiert das Marchivum ebenso wie die heutige Erinnerungskultur und Vielfalt der Stadt. Und am Ende wird eben doch sehr klar, „dass eine freiheitliche Grundordnung nicht selbstverständlich ist, sondern immer wieder gegen antidemokratische, totalitäre Tendenzen verteidigt werden muss“, wie es Nieß formuliert. Und genau das wollen er und sein Team erreichen.
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