Umweltschutz

Wird Viernheim seinen grünen Ansprüchen gerecht?

Viernheim trägt den Namen Brundtlandstadt, ein ökologisches Gütesiegel. Gleichzeitig versiegeln neue Baugebiete immer mehr Boden. Wie geht das zusammen Ein Interview mit dem Bürgermeister und dem Brundtland-Beauftragten

Von 
Martin Schulte
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Bürgermeister Matthias Baaß (M.) und Philipp Granzow vom Brundtlandbüro (r.) diskutieren mit dem Autor über ökologische Konflikte. © Marcus Schwetasch

Viernheim. Herr Baaß, zwei Neubaugebiete, Bannholzgraben II und Nordweststadt II, dazu ein großer Solarpark. Viernheim ist Brundtlandstadt, das ist ein Gütesiegel für Nachhaltigkeit. Verträgt sich das mit dem Flächenverbrauch in kurzer Zeit?

Matthias Baaß: Ich verstehe, dass Sie das aus dem Medienblickwinkel so zusammenfassen müssen. Aber ich halte diese Zusammenfassung für wenig sinnvoll. Allein bei dem Stichwort „in kurzer Zeit“ regt sich bei mir Widerspruch, weil mir manches viel zu lange dauert.

Was meinen Sie?

Baaß: Das Gebiet Bannholzgraben II wird gerade bebaut. Bis es so weit war, sind allerdings zehn Jahre vergangen. Und bis Nordweststadt II so weit sein wird, dauert es noch ein paar Jahre . . .

. . . meine Frage zielte nicht auf die Planungszeit, sondern den Flächenverbrauch . . .

Baaß: . . . das ist mir schon klar, aber ich will deutlich machen, dass es sich bei weitem nicht um eine kurze Zeit handelt.

Aber der Flächenverbrauch passiert de facto jetzt und in naher Zukunft.

Baaß: Es ist auch nicht zielführend, Baugebiete mit einer Photovoltaikanlage in Verbindung zu bringen, durch die überhaupt kein Boden versiegelt wird.

Aber es ist Flächenverbrauch.

Baaß: Ich verstehe ja, dass Sie so fokussieren. Aber man kann eben nicht alles unter eine Überschrift stellen. Was mich auch stört, ist diese thematische Hupserei, alle vier Wochen ist ein anderes Thema wichtig.

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Die „thematische Hupserei“ weise ich für diese Redaktion zurück. Wir befassen uns regelmäßig mit den Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit in Viernheim.

Baaß: Das ist richtig. Ich meine auch nicht ihre Redaktion, sondern den gesellschaftlichen Trend. Aufgabe von verantwortlicher Politik ist, aus allen zu bedenkenden Aspekten die beste Lösung zu erzielen.

Ich komme noch mal darauf zurück: Bannholzgraben II sind fünf Hektar, Nordweststadt II 20 Hektar. Ein Hektar sind 10 000 Quadratmeter. Das ist Flächenversiegelung, die in Teilen der Bevölkerung kritisch gesehen wird, wie wir in unseren Gesprächen erfahren. Passt das nun zum Anspruch einer Brundtlandstadt ober nicht?

Baaß: Ja, denn ein Ziel von Nachhaltigkeit ist auch, dass Menschen Wohnraum haben. Es ist eben nicht nur ein Ziel, sondern es sind 17 Ziele, an denen sich nachhaltige Politik ausrichten soll. Und am Ende ist es die politische Kunst, diese Ziele unter einen Hut zu bringen. Das Ergebnis kann man dann bewerten - gelungen, weniger gelungen. Sich auf einen Aspekt, etwa die Flächenversiegelung, zu beschränken, wäre im Sinne von Gro Harlem Brundtland falsch.

Der rasante Flächenverbrauch in Deutschland ist unbestritten. Also, warum immer neue Wohngebiete?

Baaß: Sie werden in Deutschland und hier in der Region keinen nachgefragten Wohnraum schaffen können, wenn Sie nicht weitere Flächen in Anspruch nehmen. Aber es gibt ja Kriterien dafür, wie man das möglichst natur- und umweltverträglich gestalten kann. Etwa wenn man jeden Quadratmeter höher ausnutzt. Ich halte es nicht für sinnvoll zu sagen, in Viernheim gibt es keine neuen Wohnungen mehr.

Herr Granzow, wie sieht der Leiter des städtischen Brundtlandbüros das?

Philipp Granzow: Es ist genau dieses Spannungsfeld, es ist da, und es muss ausgehalten und interpretiert werden. Wie Herr Baaß sagte, ist das die Kunst der Politik. Man wird es nicht allen recht machen können. Ich unterscheide auch zwischen einer Photovoltaikfreianlage und einem Baugebiet. Um die Freilandanlage entsteht ein Lebensraum, den es vorher nicht gab. Wir erschließen kein Naturschutzgebiet, sondern es ist in der Regel Ackerland.

Und wie bewerten Sie das?

Granzow: Ackerland wird bei uns mit schweren Maschinen befahren, mehrfach im Jahr mit Pflanzenschutzmitteln gespritzt und mit Kunstdünger gedüngt. In der Regel wachsen dort Monokulturen. Bei uns viel Mais, Raps, Zuckerrüben. Ein guter Teil davon wird als Zuschlagsmittel für Treibstoffe genutzt, Stichwort E 10. Das ist eine sehr ineffiziente Nutzung im Verhältnis zu einer Photovoltaikanlage.

Können Sie das veranschaulichen?

Granzow: Wenn Sie umrechnen, wie weit man mit Rapsöl von einem Hektar fahren kann, kommen Sie auf 20 000 oder 30 000 Kilometer. Mit Photovoltaik auf dieser Fläche fahren Sie zwei bis drei Millionen Kilometer. Das ist eine ganz andere Flächeneffizienz.

Photovoltaikanlagen sind also nicht als Flächenversiegelung zu betrachten, wie Kritiker das mitunter sehen?

Granzow: Nein, diese Fläche ist aus der intensiven Bewirtschaftung raus. Man kann sie einsäen mit einer artenreichen Pflanzenkultur, sie wird nicht gedüngt, nicht gespritzt und nicht bearbeitet. Es ist eine Chance für bodenbrütende Vögel, weil diese Anlagen häufig eingezäunt sind.

Willi Billau, Sprecher des Bauernverbands Starkenburg, sagt, der Verlust von Ackerland gefährde die regionale Eigenversorgung.

Baaß: Ich denke, die Menschen sind offen für diese Solarparks, weil sie wissen, dass der Strom irgendwo herkommen muss. Es kommt ja auch darauf an, um welche Flächen es geht. Es gibt inzwischen auch stillgelegte Flächen, auf denen Landwirte gar nichts mehr machen.

Die Verwaltung zieht demnächst in den Neubau am Bannholzgraben um, in die sogenannte Ellipse. Mit Solarenergie?

Baaß: Das ist vorgesehen, wir haben in der Bauphase veranlasst, dass da eine Photovoltaikanlage installiert werden kann.

Granzow: Es sind schon Leute dabei, das zu planen. Die Dachfläche ist nicht riesig, aber wir müssen nutzen, was möglich ist.

Der ehemalige Bürgermeister-Kandidat Wolfram Theymann wird nicht müde, der Stadt in Sachen Photovoltaik Rückständigkeit vorzuwerfen. Herr Granzow, wie ist die Strategie des Brundlandtbüros?

Baaß: Eigentlich würde ich das gerne beantworten. Auch da finde ich diese Verengung, weil Photovoltaik plötzlich Everybody’s Darling ist, eigenartig. Ich plädiere erneut dafür, das Gesamte im Blick zu haben.

Das eine schließt das andere nicht aus.

Baaß: Es bringt überhaupt nichts, wenn wir jetzt meinen, wir würden den ganzen künftigen Energiebedarf mit Solarstrom decken können. Nein, wir müssen eben auch schauen, dass wir weniger Energie verbrauchen. Wie schaffen wir es, dass die Gebäude insgesamt weniger Energie und weniger Wärme verbrauchen? Den Rest des Bedarfs müssen dann erneuerbare Energien liefern. Und dazu brauchen wir die Effizienz-Technologie.

Das ist doch kein Widerspruch.

Baaß: Aber es stört mich, wenn jetzt aus einer Laune heraus der Rest vergessen wird.

Sie meinen jetzt aber nicht meine Laune?

Baaß: Nein! Sie reagieren ja auf gesellschaftliche Entwicklungen. Wir müssen alles im Blick haben. Jetzt zur Photovoltaik: Auf Luftbildern von Viernheim ist zu erkennen, dass die städtischen Flächen den weit geringeren Anteil haben. Natürlich müssen wir uns um die kümmern, sind da auch schon weit vorangekommen. Dann schauen wir, was es für weitere große Flächen gibt, die infrage kommen, und landen bei vielen Gewerbetreibenden, die nicht Eigentümer der Gebäude sind. Das macht Schwierigkeiten bei der Verwendung des Stroms und bei der Wirtschaftlichkeit. Zum Schluss sind da die privaten Wohnhäuser. Hier überlegen wir momentan, wie wir animieren und motivieren können. Das nenne ich eine Strategie.

Ich will noch mal auf Ihre Einschätzung zurückkommen, wonach ständig eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Diese Redaktion hat Leserbriefe veröffentlicht, die sich sehr kritisch mit eben dieser Strategie auseinandersetzen. Da kann es Ihnen doch nur recht sein, wenn Sie das hier einordnen können.

Baaß: Es ist mir recht. Sie geben mir ja die Möglichkeit, dazu Position zu beziehen. So sehe ich das auch.

Herr Granzow, wie sieht es aktuell auf den städtischen Dächern aus?

Granzow: Wir sind hier gut vorangekommen. Die guten und großen Dächer sind alle schon bestückt.

Welche?

Granzow: Die größte Anlage ist auf der Rudolf-Harbig-Halle, es gibt schon lange eine auf dem Waldstadion und auf der TSV-Halle. Die neuen Kitas, die Jugendfeuerwehr und die Polizeistation sind bestückt sowie das Forum der Senioren und der Stadtbetrieb.

Und wie geht es weiter?

Granzow: Gerade kümmern wir uns um sechs Gebäude, bei denen es etwas schwieriger ist. Die werden aktuell untersucht nach möglichem Umfang einer Anlage und den statischen Voraussetzungen.

Was ist mit den Parkplätzen der Stadt?

Granzow: Die habe ich mir alle angesehen. Das sind beträchtliche Flächen, die aber oft durch Gebäude und Bäume verschattet sind. Es wäre ideal, sie zu nutzen. Aber es fehlt ja die tragende Struktur, das heißt, man müsste sie mit Solarmodulen überdachen. Und dann kostet der Strom doppelt so viel, als wenn man ihn auf dem Dach erzeugt. Und wir müssten einen Investor finden. Die Herstellung dieses Stroms ist deutlich teurer als die Einspeisevergütung. Das heißt, das wird nur einer bauen, der schon eine Anlage auf dem Dach hat und den Strom vom Parkplatz auch selber nutzen will, weil der dann immer noch billiger ist als der normale Tarif.

Baaß: Diese Logik hat mir jetzt auch das Rhein-Neckar-Zentrum bestätigt. Das Unternehmen geht nun zuerst die Dachflächen an und hat den Parkplatz noch hintenan gestellt.

Herr Granzow, Viernheim deckt seinen Strombedarf zu zehn Prozent mit Solarenergie. Haben Sie Vergleichswerte anderer Kommunen?

Granzow: Nein, aber bundesweit sind es 10,9 Prozent. Mit den beiden großen Anlagen der Stadtwerke (Westpfalz und Viernheim) ist Viernheim dann auf einen Schlag bei 20 Prozent, also einer Verdoppelung.

Redaktion Reporter.

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