Viernheim. Darin sind sich die Leiterinnen der Viernheimer Kitas einig: Die gesellschaftlichen Veränderungen hin zur persönlichen Individualisierung, weg vom Gemeinschaftssinn haben die Arbeit der Erzieherinnen massiv verändert. Und zwar zum Nachteil. Kitas würden heute nicht mehr als Ergänzung zur Erziehung zu Hause, sondern als Dienstleistungsbetriebe gesehen. In der Frage, wie damit umzugehen ist, bestehen allerdings unterschiedliche Vorstellungen, wie das Gespräch mit dieser Redaktion zeigt.
Da habe ein Mann vor ihm gestanden und verlangt, dass sein Kind in der Kita lerne, richtig zu essen, und überhaupt lerne, wie es sich bei Tisch zu benehmen hat. Das berichtete Rudolf Haas zuletzt unter dem Tagesordnungspunkt „Aktuelle Situation in der Kinderbetreuung“. Als Leiter des Sozialamts ist Haas für die Kitas in Viernheim amtlicherseits zuständig. Um das Thema zu vertiefen, nimmt diese Redaktion an einer Routinesitzung der Kita-Leitungen und dem Amtsleiter teil. Von den Leiterinnen der 15 Viernheimer Kitas sind vier entschuldigt.
Wir verzichten in diesem Beitrag auf die Nennung der Namen der Leiterinnen sowie auf die Nennung der Einrichtungen. So sollen Rückschlüsse auf Kinder und deren Familien verhindert werden.
„Viele Eltern wollen ihre Kinder einfach nur abgeben“
Auf die Frage, wie sich die Arbeit in der Kita verändert habe, sagt eine Leiterin, die schon seit 30 Jahren als Erzieherin arbeitet: „Es sind sehr, sehr große Veränderungen. Die Familienkonstellationen haben sich stark verändert. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um die Kinder, sondern darum, dass viele Eltern ihre Kinder einfach nur abgeben wollen.“
Die Frau sagt weiter, viele Eltern stellten immer mehr Forderungen an die Kita, um die eigene Erziehungsaufgabe auf diese abzuwälzen. Einst habe die Regel gegolten, dass Kinder keine Windel mehr brauchen, sobald sie in die Kita kommen. Heute kommen sie noch mit vier, manchmal sogar mit fünf Jahren mit der Windel in die Kita. Windeln zu wechseln, sei nicht Aufgabe der Erzieherinnen. Das – und vieles andere mehr – nehme ihnen die Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben, nämlich die pädagogische Arbeit.
Auf eine entsprechende Ansprache reagierten viele Väter und Mütter ablehnend, zeigten eine sture Haltung, berichtet die Kita-Leiterin. Es werde versucht, die Probleme zurückzuspielen, die Verantwortung umzukehren. So seien Konfliktgespräche sehr viel schwieriger geworden. „Früher waren die Eltern dankbar, wenn wir uns mit ihnen über ihr Kind ausgetauscht haben. Heute sieht man uns nur noch als Dienstleister.“ Viele ihrer Kolleginnen nicken.
„Das inhaltliche Verstehen hat extrem nachgelassen“
„Wir müssen wegen Personalmangels hin und wieder die Öffnungszeiten reduzieren. Den meisten Eltern geht es dann aber nicht um den Verlust von Zeit für die pädagogische Begleitung, für Qualität, für Entfaltung und Bildung, sondern den Verlust eigener Zeit“, berichtet die Leiterin einer anderen Kita. „Nein, Hauptsache, das Kind ist untergebracht, abgegeben, fertig.“
Es sei kaum noch möglich, eine Weihnachtsgeschichte vorzulesen, weil die Kinder sich nicht konzentrieren können, fährt sie fort. „Das inhaltliche Verstehen hat extrem nachgelassen. Ich habe den Eindruck, die meisten Kinder würden am liebsten von morgens bis abends Pokémon spielen. Das ist alles sehr schade, wir können den Ansprüchen an den Beruf und an uns selbst nicht mehr gerecht werden.“
Auf die entsprechende Frage, sagt die Kita-Leiterin, etwa 80 Prozent der Kinder bei ihr hätten sehr große Verständnisprobleme. Und das betreffe keineswegs nur Kinder von Migranten, sondern auch Kinder von deutschen Eltern. Dass viele Kinder kein Deutsch sprechen, erschwere die Arbeit obendrein. Viele Elternhäuser überließen das Deutschlernen der Kita.
„Erziehung ist Aufgabe des Elternhauses, nicht der Kita“
Eltern stünden heutzutage enorm unter Druck, gibt eine andere Kita-Leiterin zu bedenken. Der Job, der Haushalt und so weiter. Außerdem seien sie verunsichert in Sachen Erziehung, weil die Medien voll von Ratgebern zu besten Erziehungsmethoden seien. „Dann kommen sie zu uns, den Regelmachern, und wieder mischt sich jemand ein.“ Im Gegensatz zur Mehrheit der Leiterinnen habe sie den Eindruck, die Eltern honorierten die Arbeit der Erzieherinnen.
„Die Erziehung, an der es heute oft fehlt, ist die Aufgabe des Elternhauses, nicht die der Kita. Wir müssen den Ball zurückspielen, die Eltern klar auf ihre Erziehungspflicht hinweisen. Das müssen wir klarstellen. Wir müssen uns nicht alles anhören.“ Das sagt eine vergleichsweise junge Kita-Leiterin. Und: „Ich habe noch ein paar Jahrzehnte vor mir.“
„Viele Eltern fragen nicht mehr, wie der Tag war, wenn sie ihr Kind abholen. Ich erzähle es ihnen trotzdem. Und der Großteil reagiert vollkommen uninteressiert.“ Es fehle ganz enorm an Wertschätzung, sagt diese Leiterin.
„Es mangelt an zwischenmenschlicher Kommunikation“
Eine Kollegin sieht in den Corona-Jahren die Hauptursache für die beschriebene Entwicklung. Die quasi einzige Verbindung zur Außenwelt seien Smartphones, Tablets und Notebooks gewesen. Und natürlich lernten die Kinder solche Verhaltensmuster von ihren Eltern, sie übernähmen sie durch Beobachtung. Leider hätten zahlreiche Eltern auch keine Skrupel, ihr Kind im Restaurant mittels Handy ruhigzustellen.
Digitale Geräte in den Händen kleiner Kinder nehmen breiten Raum ein in dem Gespräch. Es mangele dadurch an zwischenmenschlicher Kommunikation, an Ansprache, Ansprechbarkeit, Wahrnehmung der Umgebung, Austausch und menschlicher Nähe. „Wenn ich sehe, wie das Kind im Kinderwagen aufs Handy starrt, statt sich neugierig umzuschauen und dem Papa Löcher in den Bau zu fragen, dann graust es mir“, sagte eine Leiterin.
Wie zum Exempel soll der Reporter später auf dem Rückweg einer Mutter mit Kinderwagen begegnen. Das Mädchen ist noch keine drei, schaut wie weggetreten aufs Display, ein buntes Filmchen. Keine Kommunikation mit der Mutter, keine neugierigen Fragen, nicht einmal Blickkontakt, keine Umgebungswahrnehmung.
„Ich verstehe diese Eltern, die einfach drüber sind“
„Mein Kochtopf ist voll, er läuft über. Job, Kind, Haushalt. Ich habe Verständnis dafür, dass das Kind im Restaurant aufs Tablet guckt. Dann kann die Mutter wenigstens mal diese 20 Minuten einigermaßen entspannt ihr Essen genießen“, wirft eine weitere Teilnehmerin der Runde ein. „Ich breche eine Lanze für die Eltern“, sagt sie weiter. „Vieles, was wir gelernt haben, passt heute nicht mehr. Ich verstehe diese Eltern, die einfach drüber sind.“
Rudolf Haas betont abschließend, er verlange in seiner Funktion als zuständiger Amtsleiter den Respekt der Eltern vor der Arbeit der Erzieherinnen. Er verlange einen partnerschaftlichen Umgang mit ihnen. Und das nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Personalmangels, der obendrein vieles erschwere.
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