Gesellschaft

Keine Bürgerbeteiligung in Viernheim? Von wegen

Die neue freie Wählergemeinschaft Bürgernetzwerk Viernheim behauptet, die Stadt pfeife auf Bürgerbeteiligung. Die Viernheimer seien zum Zuschauen und Ertragen verdammt. Unsere Recherche ergibt: Das Gegenteil ist der Fall.

Von 
Martin Schulte
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Horst Stephan brennt für Bürgerbeteiligung. Jede Karte (rechts) steht für eines der Formate. © Bernhard Kreutzer

Viernheim. Die Stadt pfeift auf Bürgerbeteiligung. Die Viernheimer dürfen nur zuschauen, wie Stadtverwaltung und Kommunalpolitik agieren. Das ist immer wieder zu hören, wenn die Interessen Einzelner betroffen sind. Die neue freie Wählergemeinschaft namens Bürgernetzwerk Viernheim will die Speerspitze dieser Stoßrichtung sein (wir haben berichtet). Dann fragen wir doch einen, der weiß, wovon er spricht. Heraus kommt: Das Gegenteil ist der Fall. Viernheim ist in Sachen Bürgerbeteiligung unter den Spitzenreitern – bundesweit. Eine profunde externe Quelle wird das bestätigen.

Viernheim ist bei Bürgerbeteiligung bundesweit vorn

Horst Stephan leitet das Amt für Kultur, Bildung und Soziales in der Viernheimer Stadtverwaltung. Nach eigenem Bekunden hat der 67-Jährige beinahe sein ganzes Berufsleben dem Thema Bürgerbeteiligung gewidmet. „Wir zählen aktuell 30 Beteiligungsformate in Viernheim“, sagt er.

Doch zunächst wird Stephan grundsätzlich. Wenn Einzelne sich durch das Handeln der Stadt eingeschränkt fühlten, etwa durch ein Parkverbot, riefen sie schnell nach Bürgerbeteiligung. Das sei jedoch ein falsches Verständnis von Bürgerbeteiligung. Sich aus Eigeninteresse unter dem Mantel der Bürgerbeteiligung gegen Entscheidungen wehren zu wollen, rühre aus falschem Verständnis von Bürgerbeteiligung.

Beteiligung ist Gemeinwohl-orientiert: Kritik von außen oder konstruktive Mitwirkung?

„Wenn Eigenwohl auf Gemeinwohl stößt, wird es häufig laut“, sagt der Amtsleiter. „Aber wir müssen die Dinge auseinanderhalten.“ Wer sich hingegen für das Gemeinwohl in seiner Stadt mit seinen Ideen, Verbesserungsvorschlägen einbringen möchte, gerne natürlich auch kritisch, sei herzlich willkommen. Wie gesagt, es gibt zahlreiche Beteiligungsformate. Neue können entwickelt werden.

Und, nur so nebenbei: Horst Stephan ist in anderen Städten und kommunalen Verbänden ein gefragter Referent. Ebenfalls ist er Akteur in nationalen Netzwerken, wie dem für Demokratie und Beteiligung (netzwerk-demokratie-und-beteiligung.de).

„Ein ganz entscheidender Unterschied für mich ist, ob ein Bürger sich als Teil des Ganzen sieht und aus dieser Haltung heraus kritisiert, oder ob er von außen kritisiert, sich nicht dazugehörig wähnt und eine Ich-bin-dagegen-Identität bevorzugt. Dann kann man keine gemeinsame Wahrheit entwickeln. Mit den Menschen, die sich dazugehörig fühlen, findet man immer eine Basis für eine Kommunikation.“ Von dieser Metaebene aus, der übergeordneten Sicht, betrachtet der Viernheimer Amtsleiter Gesellschaft und Stadtgesellschaft.

Leidenschaft fürs Verbinden, Abscheu vor Spaltung

In Horst Stephans Büro steht neben weiteren eine große Pinnwand. Im Fachjargon passenderweise Metaplantafel genannt. Mehr Enthusiasmus eines Vortragenden ist schwer vorstellbar. Er fliegt über all die vielen Beteiligungsformate auf den einzelnen Karten, dass es dem Zuhörer schwindet. Kein Wunder, dass ihn die Vorhaltungen des sogenannten Bürgernetzwerks schmerzen. Seine Leidenschaft gilt dem Verbinden. Er verabscheut bewusste Spaltung.

In einem Interview mit dieser Redaktion im Februar 2022 sagte Bürgernetzwerk-Frontmann Wolfram Theymann, das war ein knappes Jahr nach seiner krachenden Niederlage bei der Viernheimer Bürgermeisterwahl: „Ich will die Bürger aufwiegeln“. Das ist nicht das Geschäft eines Horst Stephan, dem Bürgernetzwerker.

Die Beteiligungsformate sprechen alle Generationen an. Vielleicht sind sie mit runden Tischen, an denen Beteiligte in einer Sache, einem Projekt sitzen, am besten erklärt. Die Verfechter der Bürgerkommune sprechen hier vom magischen Viereck: Stadtverwaltung, Politik, Unternehmen – und interessierte, engagierte Bürger kommen zusammen.

800 Senioren über Viernheim befragt

Stephan bezeichnet die Pumptrack, die künstlich angelegte Piste für Mountainbiker, als Paradebeispiel. Wir wollen so eine, machten junge Leute der Stadt klar. Gut, setzen wir uns zusammen. Alle infrage kommenden Player an einen Tisch. Ja, das machen wir im Sportpark. Stephan: „Dann wurde dort die geschützte Zauneidechse gefunden. Zuerst haben die Jugendlichen diese Eidechse gehasst. Dann haben sie die Tiere umgesiedelt und sogar noch ein Biotop für sie angelegt. Und die Pumptrack ist da.“

Die Pumpdrucklage im Sportpark: ein Ergebnis von Bürgerbeteiligung. Man nimmt den Schwung abwärts mit, um ohne zu treten die Steigungen zu schaffen. © Bernhard Kreutzer

Beteiligung hat viele Facetten. Zuletzt hat die Stadt unter dem Motto „Alt werden in Viernheim“ einen Fragebogen an 800 Senioren verschickt. Er ist mit Unterstützung der Hochschule Speyer entwickelt worden. Ältere Bürgerinnen und Bürger Viernheims könne darauf unter anderem vermerken, was Ihnen fehlt in der Stadt. Der Rücklauf liegt aktuell bei 48 Prozent. Die Auswertung übernimmt die Hochschule.

Es geht auch anders. Als die Stadt Viernheim zu einer Beteiligungsveranstaltung zur Zukunft des alten Rathauses eingeladen hat, ist das gründlich schiefgegangen. Die Gutachten waren längst erstellt, die Erkenntnis, dass für die Umsetzung verschiedener Vorschläge kein Geld da ist, längst gereift. „Da haben wir viele Leute verprellt. Sie haben gefragt, warum sie sich beteiligen sollen, wenn eh schon alles durch ist. So etwas darf uns nicht noch einmal passieren“, so Stephan.

Eigene Richtlinien für Bürgerbeteiligung erarbeitet

Und damit es nicht wieder passiert, hat Viernheim eigene „Richtlinien zur Bürgerbeteiligung“ entwickelt. Ein Leitbild, das für jedes neue Projekt gescannt wird. Wer sich mit Bürgerbeteiligung in Viernheim befasst, sieht, dass hier jede Menge Manpower und Aufwand drinsteckt. Es wäre spannend, aber Rahmen sprengend, hier alle 30 Module der Bürgerbeteiligung abzubilden. Horst Stephan steht aber all jenen, die ein für ihr Anliegen oder ihr Interesse passendes Format suchen, beratend zur Seite.

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Die Ergebnisse dessen, was in den Beteiligungsformaten erörtert und als wünschenswert befunden wurde, fließen ein in die Arbeit der Stadtverwaltung und der Kommunalpolitiker. Und, das gehört auch zur Wahrheit: Es muss in den gesetzlichen Rahmen und in den finanziellen Rahmen der Stadt passen. Kurz: Es muss machbar sein.

Natürlich ist Viernheim der gemeinnützigen Stiftung Mitarbeit in Bonn, die sich seit den 1960er Jahren für die Stärkung von Demokratie und Bürgerbeteiligung in Kommunen einsetzt, ein Begriff. Ihr Vorstandsvorsitzender Hanns-Jörg Sippel erklärt auf Nachfrage: „Die Stadt Viernheim ist eine bundesweit anerkannte Vorreiterkommune in Sachen Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, der Bürgerorientierung in der Verwaltung und der Bürgerbeteiligung. Bereits Anfang der 1980er Jahre ging die Kommune mit der Seniorenbegegnungsstätte SBS, die von den Senioren selbst demokratisch verwaltet wird, einen ungewöhnlichen Weg. Das Viernheimer Modell basiert auf der politischen Überzeugung, dass Menschen demokratisches Verhalten einüben und erleben können müssen, um sich ihrer gemeinsamen Verantwortung für das Gemeinwesen bewusst zu werden.“

Ende der 1990er Jahre habe Viernheim zu den elf Kommunen gehört, die bei einem Wettbewerb der Bertelsmann Stiftung bundesweit aus einem Bewerberfeld von 83 Kommunen ausgewählt und in das „CIVITAS Netzwerk bürgerorientierter Kommunen“ aufgenommen wurden. In dem Städtenetzwerk hätten sich „Orte der Demokratie“ zusammengeschlossen, die bereits neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Kommunalpolitik, Verwaltung und Bürgerschaft praktizierten und bei denen die Beteiligung der Bürger und die Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements auf der politischen Agenda standen. Viernheim und sein damaliger und heutiger Bürgermeister leisteten in der fünfjährigen Förderphase des CIVITAS-Netzwerkes eine intensive Aufbau- und Entwicklungsarbeit, so Sippel.

Mit der „Richtlinie zur Bürgerbeteiligung in der Stadt Viernheim“ hätten Politik und Verwaltung einen rechtssicheren Rahmen geschaffen, in dem Beteiligungsprozesse organisiert und ihre Qualität gesichert werden kann, erklärt der Sprecher der Stiftung Mitarbeit.

Den in Viernheim für Bürgerbeteiligung zuständigen Amtsleiter Horst Stephan erreichen Interessierte unter 06204/988-401 oder per E-Mail unter horst.stephan@viernheim.de zu erreichen.

Redaktion Reporter.

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