Schriesheim. „Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar“, sagt Sergej Vlasov. Und wendet sich dabei an Stadtrat Frank Hoffmann, bei dem er und seine Frau Unterkunft gefunden haben. Er lächelt, wobei ihm wohl nicht nach Lächeln zumute ist, als er anfügt: „Meine Tochter ist in die Ukraine zurückgekehrt, denn sie will bei ihrem Mann sein.“ Auch die Familie dieses renommierten Politologen aus Kiew ist durch den Krieg zerrissen. Dennoch - oder gerade deswegen - ist es ihm ein Anliegen, hier von der Situation in seiner Heimat zu berichten.
Wie die meisten Ukrainer führt Vlasov bis zum 24. Februar ein normales Leben, als ein angesehner Wissenschaftler. Seine Dissertation verfasst er über die „Außenpolitische Konzeption der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“. Er publiziert intensiv und wird Mitglied der Akademie der Wissenschaften.
In den politischen Auseinandersetzungen der Ukraine bezieht Vlasov klar Position. Schon am ersten Tag der legendären Proteste auf dem Maidan 2014 ist er mit dabei. „Meine Frau und ich standen inmitten der jungen Leute“, erinnert er sich an die unwirkliche Situation: „Wir hatten die Kleidung an, die wir tagsüber an unserem Arbeitsplatz tragen, und waren nun inmitten von Studenten, die Barrikaden errichteten.“
Freund in Schriesheim
Vlasov wohnt am Rande von Kiew. Plastisch schildert er das Leben in der attackierten Hauptstadt. „Als ich in der Küche das Frühstück gemacht habe, sah ich eine Rakete über meinem Dach fliegen und horte sie ganz in der Nähe laut einschlagen“, erzählt er: „Da wusste ich: Ich muss gehen.“ Mit seiner Frau macht er sich auf den Weg nach Deutschland.
Hier kommt er zunächst in Krefeld unter. Durch einen Freund führt ihn sein Weg bald nach Schriesheim. Der Freund ist Winfried Schneider-Deters, 1995 bis 2000 Leiter der Kiewer Niederlassung der Friedrich-Ebert-Stiftung (deren erster Stipendiat Vlasov einst war). Dessen Sohn wiederum ist befreundet mit Grünen-Stadtrat Frank Hoffmann. Und dieser schafft in seinem Haus spontan Platz für Vlasov und seine Frau.
Mit seiner Tochter hält Vlasov festen Kontakt. Sie ist in Lwiw, das Lemberg heißt, als es noch zum Kaiserreich Österreich-Ungarn gehört. Baulich von der k.u.k.-Monarchie, also durch und durch mitteleuropäisch geprägt, aber nun von Raketen bedroht und voller Flüchtlinge aus dem Rest des Landes. Auch dies unwirklich. Zu wissenschaftlichen Kollegen in Moskau hat Vlasov ebenfalls Kontakt. „Auch sie missbilligen den Angriff absolut“, berichtet er. Doch wie viele Kriegsgegner in Russland sind sie zur Untätigkeit verdammt.
Und wie beurteilt er die oft pointierten Worte des Botschafters Melnyk? „Sie sind zu hart“, findet Vlasov, auch Dozent an der diplomatischen Akademie: „Wenn er bei mir studiert hätte, hätte ich ihm eine etwas diplomatischere Vorgehensweise beigebracht“, schmunzelt er.
Zur deutschen Politik durchaus selbstkritisch äußert sich Winfried Schneider-Deters. „Auch ich fand die Bemühungen Deutschlands für eine Europäisierung Russlands richtig“, bekennt der einstige Repräsentant der SPD-nahen Ebert-Stiftung: „In der Rückschau ist dieses Konzept natürlich gescheitert“, räumt er ein. Das müsse man jetzt klar benennen. Den Brief von Alice Schwarzer findet er daher „entsetzlich“.
„Man darf für sich sagen, Pazifist zu sein, dies aber nicht anderen aufzwingen“, meint Grünen-Fraktionschef Christian Wolf. Und zum Kurs von Baerbock und Habeck: „In unserer Mitgliedschaft gibt es eine klare Mehrheit dafür.“ „Das Thema ist omnipräsent, man wird oft darauf angesprochen“, berichtet Frank Hoffmann: „Deshalb wollen wir, obwohl Kommunalpolitiker, uns diesem Thema mit einer Veranstaltung zuwenden.“ Und mit Vlasov, dem Experten aus dem Land selbst, und Schneider-Deters, Autor eines zweibändigen Werkes von zusammen fast 1600 Seiten über „Ukrainische Schicksalsjahre 2013-2019“, haben sie auch gleich zwei besonders qualifizierte Referenten gewinnen können, die dazu gerne bereit sind.
So schön Schriesheim ist - Vlasov will, so bald dies möglich ist, zurück in seine Heimat. Wann, glaubt er, wird der Krieg zu Ende sein? „Es kann ganz schnell gehen und ganz langsam“, sagt er und bekennt damit: Bei einem Mann wie Putin ist auch ein versierter Politikwissenschaftler am Ende des Lateins.
Veranstaltung: Sonntag, 15. Mai, 18 Uhr, Großer Saal „Hirsch“.
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