Mannheim/Czernowitz. Gastbeitrag von Anna Semyonova
Diana Beretschenko hat bis vor Kurzem in Mariupol gewohnt, einer schönen Stadt am Asowschen Meer. Inzwischen ist die Stadt zu Ruinen geworden. Seit eineinhalb Monaten verteidigt die ukrainische Armee Mariupol. Die Stadt wird von russischen Soldaten besetzt und beschossen. Mehr als 22 000 Zivilsten sind nach offiziellen Angaben getötet worden. Beretschenko hatte Glück. Sie konnte die Stadt mit ihren Kindern verlassen. Jetzt ist sie in Czernowitz. Die kleine Stadt in der Westukraine ist für viele zu einem neuen Zuhause geworden. Der Mannheimer Gemeinderat hat Anfang April einer Städtepartnerschaft mit Czernowitz zugestimmt.
Hier geht es zum Originaltext in ukrainischer Sprache.
Die 38-jährige Diana Beretschenko hat mit ihren Kindern im Alter von zwölf und 18 Jahren im Czernowitzer Zentrum Schutz und sozial-psychologische Hilfe gefunden. Ihr Mann ist Soldat - und verteidigt Mariupol. Am 24. Februar begann ihre Horrorgeschichte, erzählt die Frau. Davor habe sie eine Weile in Israel gelebt und deshalb gewusst, wie eine Explosion klingt. „Aber am 24. Februar habe ich verstanden, dass der große Krieg begonnen hat.“
In Mariupol hätte Dianas Familie ein normales Leben geführt. Mit ihrem Mann habe sie das Haus ihrer Großeltern renoviert. „Wir haben gearbeitet und unsere Kinder erzogen“, sagt sie. „Nach vier Kriegstagen hat mich mein Mann angerufen und gesagt, dass unser Haus komplett zerstört wurde. Die Russen haben alles dem Erdboden gleichgemacht. Kein Ziegelstein wäre noch auf dem anderen geblieben, hat er gesagt.“
Nach den ersten Stunden unter Beschuss habe Beretschenkos Mann gesagt: „Steig ins Auto!“ Alles, was sie packen konnte, waren ein paar Unterlagen und der Schlüssel für den Tresor. „Den Schlüssel habe ich, der Schrank war zuhause - aber das existiert nicht mehr.“
„Ein Schuss, und du bist tot“
Beretschenko fährt zu ihren Eltern nach Berdjansk - etwa 80 Kilometer von Mariupol entfernt. Die Russen hätten den Ort in den ersten Tagen besetzt. So habe sie mit ihren Eltern in einer besetzten Stadt gelebt. „Währenddessen habe ich gebetet, dass wir wieder raus können“, schildert sie. „Ich weiß, was es bedeutet, die Frau eines Soldaten zu sein, was es bedeutet, täglich Checkpoints und Sicherheitskontrollen zu passieren.“ Schnell vorbeifahren und die Autonummern abschrauben, damit die Soldaten sie nicht erkennen. All das hätten sie schon 2014 und 2015 während des Kriegs im Donbass erlebt. „Wahrscheinlich war ich deswegen tief in meiner Seele auf diese Horrorgeschichte vorbereitet.“ So sei die Flucht für sie vielleicht einfacher gewesen als für andere, sagt sie.
Gastautorin Anna Semjonova aus Czernowitz
- Anna Semjonova ist 21 Jahre alt und lebt in Czernowitz.
- Sie arbeitet unter anderem seit 2019 als Redakteurin für die größte Tageszeitung der Stadt.
- Der Mannheimer Gemeinderat stimmte im April für eine Städtepartnerschaft mit Czernowitz. Zuvor hatten beide bereits kooperiert.
- Czernowitz pflegt unter anderem seit März eine Partnerschaft mit Düsseldorf.
„Das einzige, was ich wollte, war die besetzten Gebiete schnell zu verlassen.“ Ihre Verwandten wollten, dass sie einen der humanitären Korridore nutzt. „Aber die Russen konnten uns trotzdem beschießen, selbst wenn wir diesen Korridor benutzt haben“, so Diana Beretschenko. „Sie waren wie Plünderer. Sie nahmen sich alles, was ihnen gefiel - Smartphones und vor allem Goldschmuck.“ Man stehe daneben und könne nichts machen. „Ein Schuss, und du bist tot. In solchen Momenten hast du nicht nur Angst um dich, sondern um deine Kinder.“
Übersetzerin Valeriia Tronko
- Valeriia Tronko lebt seit etwa sechs Jahren in Deutschland und arbeitet unter anderem als Lehrerin für Deutsch und Ukrainisch.
- Ursprünglich kommt Tronko aus Krywyi Rih in der südlichen Ukraine im Oblast Dnipropetrowsk.
- Aktuell leitet sie an der Abendakademie einen Ukrainisch-Kurs für Helferinnen und Helfer.
Der 38-Jährigen gelingt die Flucht. Als sie in Czernowitz ankommt, bekommt sie eine Unterkunft, Essen und Hilfe. „Hier habe ich etwas Ruhe für meinen Geist.“ Ihre Eltern sind in Berdjansk geblieben. Dort gebe es keine Medikamente, kein Tierfutter, keine Hygienemittel. „Ich versuche, Essen oder Medikamente aus Czernowitz zu schicken, damit sie überleben.“ Czernowitz ist eine Hochburg der Flüchtlingsbewegung. „Alle Geflüchteten, die hier leben, sind zu einer Familie geworden. Wir unterstützen uns gegenseitig.“
Neue Freundschaften enstehen
Ein langer, dunkler Gang in ihrer Unterkunft. Im Flur stehen Betten, die für neue Flüchtlinge vorbereitet sind. Man hört Gespräche aus Zimmern. „Haben dich deine Verwandten angerufen?“, fragt eine Frau. „Nein“, antwortet ein Mann. Stille. Auf dem Tisch in Beretschenkos Zimmer liegen ein Tablet und zwei Hefte. Zwei Mädchen sitzen davor, elf und zwölf Jahre alt. Sie haben Online-Schulunterricht. „Hier wohnt noch eine Familie“, schildert Beretschenko. „Wir schlafen gemeinsam im Zimmer. Unsere Kinder haben sich angefreundet, sie lernen sogar zusammen.“
Ein Mädchen erzählt, sie sei in der sechsten Klasse. Sie vermisse ihre Heimatstadt Mariupol, habe sich aber schon in Czernowitz verliebt. „Am liebsten will ich meine Freunde und Lehrer umarmen“, sagt sie. „Ich wünsche mir, dass sie leben. Ich will ohne Krieg leben! Ich will mich auf das Leben freuen.“ Das andere Mädchen schweigt. Sie schaut auf den Boden - nur ab und zu bewegen sich ihre Finger.
Es geht in den Hof. Hier herrscht Leben! Flüchtlinge machen den Hof sauber, jäten Blumenbeete, fegen den Hof. Die zwölfjährige Nastya streicht den Gehweg. „Sie hilft uns“, ruft eine Frau. Nastya blickt mit ihren großen braunen Augen umher. In einer Hand hält sie einen Pinsel, mit der anderen ihre Haare, die ihr ins Gesicht fallen. „Müde“, sagt sie. Geht Nastya in die Schule? „Ja, wir haben Online-Unterricht. Aber meine Mama hilft hier, deswegen will ich auch helfen.“
Hohe Dunkelziffer an Geflüchteten
Roman Molofiy kommt dazu. Als der Krieg begann, hat er die Aufnahme von Geflüchteten organisiert. „Wir haben zwei Etagen im Gebäude eingerichtet. Jetzt haben wir hier 240 Flüchtlinge aus den verschiedenen Städten und Gebieten“, erklärt er. In dem Haus wohnen Menschen aus Mariupol, Charkiw, Tschernihiw, Kiew und dem Donetsk-Gebiet. „Unsere Flüchtlinge wollen immer irgendwie helfen.“ Jemand pflanzt Blumen, andere graben, wieder andere putzen.
Alle Männer, die gekommen sind, haben sich als Reservisten gemeldet. „Wir geben den Leuten dreimal am Tag etwas zu essen“, erklärt Molofiy. Am schwierigsten sei es, wenn etwas fehlt. „Du stehst da und denkst: Was koche ich?“ Ans Aufgeben denken sie aber nicht. Auch Unternehmer liefern Essen und helfen bei der Koordination. „Wir halten zusammen. Wir wissen, dass wir gewinnen werden!“, sagt Molofiy.
Seit Kriegsbeginn hat Czernowitz etwa 21 000 Geflüchtete offiziell angemeldet, teilt die Stadt mit. Tatsächlich dürften weit mehr in Mannheims Partnerstadt gekommen sein: Inoffizielle Angaben gehen von mehr als 50 000 Menschen aus.
In der Stadt gibt es zwölf Orte, an denen Menschen humanitäre Hilfe bekommen. Sieben befinden sich in Schulen und Kindergärten. Dort arbeiten Freiwillige und andere, die unterstützen können. Menschen, die fliehen, können in Czernowitz Halt machen, um Essen und Hygienemittel zu erhalten. Nach Bedarf auch Kleidung und Decken. Im Zentrum haben Freiwillige ein Büro geöffnet, in dem man medizinische und psychologische Hilfe bekommt. Für Kinder gibt es eine Spielecke. So ist das kleine Czernowitz an der Grenze zu Rumänien zu einem großen Zufluchtsort geworden.
Aus dem Ukrainischen: Valeriia Tronko
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