Schriesheim. Wer Fernsehbilder von Staatsakten verfolgt, der sieht die Repräsentanten der fünf obersten Verfassungsorgane. Voran natürlich den Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier, danach - und zwar in dieser Reihenfolge - Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Bundeskanzler Olaf Scholz, die jährlich wechselnde Repräsentanz des Bundesrates (derzeit Manuela Schwesig) und: den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Stephan Harbarth.
Die Menschen in Schriesheim, ja in der Region kennen ihn nicht nur aus dem Fernsehen. Denn in der Region verbringt er seine Kindheit und Jugend, startet hier seine bald glanzvolle Karriere. Noch heute pflegt er private Kontakte an die Bergstraße, ist etwa präsent, wenn Weggefährten zu Grabe zu tragen sind. Schriesheim wiederum ist stolz auf seinen berühmtesten Sohn: Seit kurzem ist er Ehrenpate des Madonnenbergs.
Stephan Harbarth - mit 16 startet die politische Karriere
Geboren wird Stephan Harbarth am 19. Dezember 1971 in Heidelberg. 1975 ziehen die Eltern mit ihm nach Schriesheim, wo ein anderer Zweig der Familie bereits seit langem etabliert ist, als „echte Schriesemer“, wie man hier zu sagen pflegt. Mit einem guten Namen. Engagiert in der katholischen Pfarrgemeinde. Eine entferntere Verwandte, Sibylle Harbarth, arbeitet als Sekretärin im katholischen Pfarramt, eine weitere, Martha Harbarth, singt mehr als 70 Jahre lang im Kirchenchor.
Stephan Harbarths Mutter Helga wirkt, nachdem sich die Familie in Schriesheim niedergelassen hat, in der kirchlichen Seniorenarbeit. Und natürlich ist der junge Stephan auch Ministrant. Dieses Umfeld prägt auch Anschauungen; seine kritische Haltung zur „Ehe für alle“ etwa, die nach seiner Wahl zum Verfassungsrichter Anlass für Kritik von Schwulen- und Lesbenverbänden wird, gründet in dieser Sozialisierung.
Das konfessionelle Milieu beeinflusst an der Badischen Bergstraße nicht selten politische Orientierung: Protestanten engagieren sich eher bei den Freien Wählern, Katholiken eher in der CDU. Für diese kandidiert Helga Harbarth auf hinteren Plätzen zum Gemeinderat, und auch für ihren Sohn hat die Regel noch Gültigkeit: 1987, mit 16, tritt er in die örtliche Junge Union ein, deren stellvertretender Ortsvorsitzender er wird. Doch bei Abenden der CDU-Jugend, in Schriesheim nicht ohne Grund einst als „Blaue Union“ persifliert, bleibt er selten lange. Die Artikel, die er für sie im Mitteilungsblatt verfasst, stechen dagegen in diesem Umfeld durch ihre Brillanz heraus.
1994 kandidiert Harbarth mit 22 Jahren zum Schriesheimer Gemeinderat
1993 tritt er auch der Mutterpartei CDU bei. Bereits im Jahr darauf kandidiert er für sie zum Schriesheimer Gemeinderat - auf Platz 19, einem der letzten und aussichtslosen. Der Wahlkampfprospekt zeigt einen 22-Jährigen mit jungenhaften Zügen; als „Interessensschwerpunkte“ gibt er Jugend-, Finanz- und Umweltpolitik an - also noch fernab jener juristischen Themen, die seine späteren hohen Ämter prägen werden. Das damalige Wahlergebnis katapultiert ihn natürlich nicht in das Stadtparlament. Harbarth fährt sein politisches Engagement zurück - zu Gunsten von Studium und Beruf.
Das Abi hat er am Heidelberger Bunsen-Gymnasium gemacht, an dem sein Vater stellvertretender Schulleiter ist. Mitschüler beschreiben den Jungen als eher zurückhaltend. Überliefert ist aber auch schon für damals sein Fleiß. Wohl auch beim anschließenden Jurastudium in Heidelberg: Sein erstes Staatsexamen absolviert er gar als Jahrgangsbester, es folgen Promotion und Stipendium an der US-Elite-Uni Yale. Zurück in Deutschland steigt er bei der renommierten Mannheimer Wirtschaftskanzlei Schilling, Zutt & Anschütz ein, was ihm finanzielle Unabhängigkeit garantiert.
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Parallel läuft das Family Building: Er heiratet Juliane, die Tochter der langjährigen CDU-Landtagsabgeordneten Elke Brunnemer. Das Paar bekommt drei Kinder. Ihren Wohnsitz nimmt die Familie in der Abgeschiedenheit des Kraichgaus, in Mühlhausen, Ortsteil Rettigheim.
Erst jetzt stürzt er sich in die Politik: 2009 erringt er das Bundestagsmandat im bisherigen Bernd-Schmidbauer-Wahlkreis Rhein-Neckar. Und auch in Berlin kommt seine Art an. Mit Kanzlerin Angela Merkel pflegt er ein auskömmliches Verhältnis, obgleich die beiden ideologisch Einiges trennt. Auch zu den Sozialdemokraten unterhält der Konservative einen ganz guten Draht.
Mit 46 Jahren Richter am Bundesverfassungsgericht
Das alles ermöglicht 2018 den Karrieresprung: die Nominierung durch CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne zum Richter am Bundesverfassungsgericht. Mit 46 rückt Harbarth nicht nur für Ferdinand Kirchhof in das höchste deutsche Gericht auf, sondern wird damit sogleich dessen Nachfolger als Vizepräsident. Welch ein Geburtstagsgeschenk für seine Mutter, die in jenen Tagen ihren „75.“ feiern kann! Denn bereits zu diesem Zeitpunkt ist absehbar: Gemäß den ungeschriebenen Regeln dieser Institution wird Harbarth als Vizepräsident schon bald Nachfolger des Präsidenten Voßkuhle. Mitte 2020 ist dies denn auch der Fall.
Am Ort seiner Jugend, in dem seine Eltern leben, wird dies damals Tagesgespräch. „Natürlich ist es für Schriesheim etwas Besonderes, wenn die künftige Nummer 5 des Staates aus unserer Stadt kommt“, bekennt der damalige Bürgermeister Hansjörg Höfer. „Ich habe ihn mehrmals gesprochen, vor allem beim Mathaisemarkt“, berichtet der grüne Kommunalpolitiker. Auf die Frage nach Harbarths Gesprächsthemen gerät er ins Grübeln: „Er hat eher zugehört“, sagt Höfer damals.
Ein Motiv, das sich durch viele Gespräche mit Weggefährten aus Harbarths Schriesheimer Zeit zieht: Höflichkeit, Zurückhaltung, Abgewogenheit, Sachlichkeit - so lauten die zentralen Attribute für ihn. Aber ja nicht die schlechtesten für den obersten Hüter unserer Verfassung.
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