Zeitreise

Das Kleinod Ursenbach im Vorderen Odenwald

Nur 144 Einwohner groß, und dies nahezu konstant bereits seit Jahrhunderten. 1973 wurde die bis dahin selbstständige Gemeinde ein Ortsteil der Stadt Schriesheim. Das 50. Jubiläum wird an diesem Wochenende gefeiert

Von 
Konstantin Groß
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Ursenbach in den 1960er Jahren – ein Bild wie gemalt. Es zeigt Gottfried Edelmann, Bauer und Bürgermeister, bei der Feldarbeit. Doch die Postkartenidylle trügt: Das Leben hier war hart. © Archiv Konstantin Groß

An meinen ersten Besuch in dem Dorf erinnere ich mich noch genau: vor fast drei Jahrzehnten, am 21. November 1995. Ich soll über die Sitzung des Ortschaftsrates berichten, aber ich bin wie so oft in Eile. So bemerke ich bei meiner zügigen Fahrt auf der Hauptstraße zu spät, dass ich den Ort bereits passiert habe.

So ist Ursenbach, im wahrsten Wortsinne ein Klein-Od. 1000 Jahre lang übersteht es alle Stürme der Geschichte nahezu unverändert, am Ende sogar die Eingemeindung ins ferne Schriesheim vor 50 Jahren, die an diesem Wochenende ausgiebig gefeiert wird. Dank der Abgeschiedenheit bleibt seine Einwohnerzahl nahezu konstant, kommt selten über 200 Einwohner hinaus. Heute sind es etwa so viele wie um 1800 – 144.

Warum wird es hier gegründet und erhalten, so weit entfernt von den Zentren des Lebens in dieser Region? Gerade deshalb: Im Hochmittelalter bietet das hiesige Tal Schutz, der dichte Wald Versteck- und Fluchtmöglichkeit, der Bach das ganze Jahr über Wasser und dank seines Fischbesatzes auch Nahrung.

Ursenbach – Daten und Namen

Lage: Im Vorderen Odenwald zwischen Altenbach und Rippenweier acht Kilometer von Schriesheim. Gemarkungsgröße: 208 Hektar. Höchste Erhebung (im Westen) 452 Meter, tiefste 243 Meter.

Klima: In Ursenbach ist es um 4,5 Grad Celsius kühler als an der nahen Bergstraße. Niederschlagsmenge (1065 mm) und Zahl der Schneetage (50) sind wiederum höher als dort.

Einwohner: aktuell 144 (2005: 183).

Name: Von Ur oder Auerochse hergeleitet. Auch Symbol im Ortswappen.

Ortsgründung: im Hochmittelalter durch die Herren von Hirschberg-Strahlenburg, 1361 erstmals urkundlich erwähnt, seit 1973 Stadtteil von Schriesheim. Technische Besonderheit: Telefonisch nicht Vorwahl von Schriesheim (06203), sondern von Wilhelmsfeld (06220).

Kommunale Struktur: Als Stadtteil Schriesheims sind dessen Gremien maßgebend. Im Gemeinderat der Gesamtstadt ist Ursenbach gemäß Eingemeindungsvertrag mit einem Sitz vertreten. Mandatsinhaberin seit 2019: Gerlinde Edelmann (Grüne).

Örtliche Interessenvertretung: in Urwahl gewählter Ortschaftsrat mit sechs Mitgliedern, der Ortsvorsteher/Ortsvorsteherin wählt. Amtsinhaberin seit 2019: Inge Pfrang.

Literatur: Ortschronik „Wiesen, Wald und Weltmeister“, verfasst von Konstantin Groß 2003 anlässlich des 30-jährigen Eingemeindungsjubiläums, 290 Seiten, 200 Fotos.

Eingemeindungsjubiläum: Samstag, 15. Juli, 17.30 Uhr: Festakt im Festzelt, danach geselliger Abend. Sonntag, 16. Juli: Fortsetzung des Festes mit Frühschoppen. -tin

Anfangs besteht das Dorf aus vier bis sechs Höfen entlang der heutigen Durchgangsstraße. Wie die knapp 75 Menschen leben, darüber ist nichts hinterlassen. Aus der Dunkelheit der Geschichte heraus tritt das Dorf erst am 20. Dezember 1361 mit einer Urkunde. Darin überträgt der Ortsherr, ein gewisser Merkel von Ursenbach, einen der Höfe an den Messner der Pfarrei Leutershausen.

In den Jahrhunderten danach erlebt der kleine Ort all die Herrschaftswechsel dieser Region, zunächst zur Kurpfalz, 1803 zu Baden. Und überlebt sie. 1775 überschreitet er sogar die magische Einwohnerzahl von 100. 1852 erreicht sie mit 177 einen ersten Höchststand.

Die Abgeschiedenheit des Dorfes über Jahrhunderte bewirkt lange eine starke Homogenität der Bevölkerung. Familiennamen wie Edelmann, Weigold, Sommer, Pfrang und Fath tauchen immer wieder auf; bei Gründung des Sängerchors Ursenbach 1912 sind drei Männer mit Namen Adam Edelmann vermerkt.

Doch die Abgeschiedenheit wird zuweilen als drückend empfunden, auch die geringen Erträge der Landwirtschaft motivieren zum Verlassen des Ortes. Die Einwohnerzahl sinkt dramatisch, auf 141 im Jahre 1925.

Der blinde Lehrer

Denn das Leben hier ist hart. Mit Folgen. So wird die Schule bis ins 19. Jahrhundert nur als Winterschule gepflegt. Das bedeutet: Die Kinder werden nur im Winter unterrichtet, während sie im Sommer auf den Feldern arbeiten müssen. Und wenn sie unterrichtet werden, dann alle gemeinsam, in einem einzigen Raum.

Bei den Eliten vor Ort fehlt das Bewusstsein für Veränderung. Als Lehrer Haebler 1924 eine Landkarte von Europa anschaffen will, da bescheidet ihn ein Großbauer: „Eine Karte von Europa? Warum Europa? Wer weiß, ob einer unserer Buben überhaupt einmal dorthin kommt.“

Dieser Lehrer Walter Haebler ist eine prägende Gestalt des Lebens jener Zeit vor Ort. 1924 kommt er mit 31 Jahren aus dem mondänen Baden-Baden an die Schule in Ursenbach. Doch 1928 erblindet er. Mit Rückendeckung der Gemeinde und praktischer Unterstützung seiner Frau Judith kann er seine Arbeit zunächst fortsetzen. Ein blinder Lehrer – wird da bei Klassenarbeiten nicht abgeschrieben? „Das hat keiner gemacht“, antworten damalige Schüler auf Befragung später unisono.

Doch die Konstruktion hat keinen Bestand, auch Ursenbach ist im 1933 angebrochenen Dritten Reich keine Idylle. Haebler ist nicht nur blind, sondern überzeugter Christ und will auch nicht der Partei beitreten. 1936 wird er daher aus dem Schuldienst entfernt, wechselt in ein Mädchenheim der Evangelischen Kirche bei Lörrach. 30 Jahre später besuchen ihn Mitglieder des Sängerchors. Obwohl er sie als Schüler ja nie sehen konnte, erkennt er sie sofort: „Du bis doch . . .“ Bewegende Momente.

Die Lehrkräfte wechseln, doch an der Struktur des Unterrichts vor Ort ändert sich nichts. Noch 1966 werden sämtliche Schüler der Klassen 1 bis 8 gemeinsam unterrichtet, 24 in einem einzigen, 26 Quadratmeter kleinen Raum – auf Dauer nicht haltbar. Das Schuljahr 1969/70 wird daher das letzte hier. Fortan geht es nach Schriesheim zur Schule. Das Schulhaus hier ist nur noch Rathaus.

Bekannt wird Ursenbach in jenen Jahren durch Helmut Fath, 1929 hier geboren als Sohn des „Krone“-Wirts. Seit Kindertagen ein Motorradfan, steigt er in den Rennsport für Gespannwagen ein. 1960 holt er mit Alfred Wohlgemuth als Beifahrer gegen die Armada des alles beherrschenden BMW-Stalls die Deutsche Meisterschaft. Im gleichen Jahr folgt der WM-Titel über 500 Kubik.

„Die Ursenbacher hatten es kaum bemerkt“, erzählt er später. Doch als immer mehr Zeitungen über ihn berichten, da wird auch denen, die sich nicht für Motorsport interessieren, klar: Fath ist ein Star. Seine Heimatgemeinde macht ihn 1960 zum Ehrenbürger, der Bundespräsident verleiht ihm das „Silberne Lorbeerblatt“, höchste Auszeichnung der Bundesrepublik für Sportler; Fath steht damit in einer Reihe mit Sepp Herberger und Franz Beckenbauer, Boris Becker und Steffi Graf.

Nach unfallbedingter Pause entwickelt er mit zwei Freunden eine Vier-Zylinder-Maschine, benennt sie nach seinem Heimatort: „Urs“. Die 80 PS starke „Urs“ ist ihrer Zeit technisch weit voraus. Auf ihr holt er mit seinem Partner Wolfgang Kalauch 1968 noch einmal die Deutsche und die Weltmeisterschaft. Motorradsport-Journalisten in England küren ihn zum „Man of the Year“.

1970, mittlerweile fast 42, beendet er seine aktive Fahrertätigkeit, wirkt als Berater, tunt die 250-er Yamaha von Phil Read, der damit 1971 einen WM-Titel holt. Viele Stars sind in der kleinen Fath‘schen Werkstatt im Herdweg zu Gast. Fath stirbt am 19. Juni 1993, im 65. Lebensjahr.

Da hat sich die Welt auch für Ursenbach verändert. 1968 beschließt der Landtag die Gemeindereform. Ursenbach kann nicht selbstständig bleiben. „Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich Dir den Schädel ein“, klagt der damalige Bürgermeister Gottfried Edelmann.

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Die Eingemeindung ist unvermeidlich. Doch wohin? Das Innenministerium schlägt von Anfang an eine Angliederung an Schriesheim vor. In der Region selbst wird auch ein Anschluss an Weinheim oder die Bildung einer Odenwald-Gemeinde zusammen mit Rippenweier und Oberflockenbach diskutiert. Am Ende entscheiden sich die Ursenbacher für Schriesheim: „Mir gehe do hin, wo‘s Wasser hinfließt“, so die etwas archaische Argumentation. Der wahre Grund ist profaner: Gegenüber Schriesheim sieht man sich in besserer Position. Die Weinstadt fürchtet selbst die Eingemeindung nach Heidelberg, muss ihre kritische Größe verlassen, sich erweitern.

Verlust der Selbstständigkeit

Am 26. März 1972 kommt es in Ursenbach zur Abstimmung: Von 102 Wahlberechtigten beteiligen sich nur 43 – ein klares Votum gegen eine Eingemeindung, auch wenn von denen, die an ihr teilnehmen, 35 mit Ja und nur acht mit Nein votieren. Die Verhandlungen mit Schriesheim ergeben: Der Bürgermeister wird Ortsvorsteher, der Gemeinderat Ortschaftsrat. Am 1. Januar 1973 tritt die Eingemeindung in Kraft.

Seine Lebensfähigkeit zu bewahren, gelingt Ursenbach. Im Zuge der Stadtflucht der 1970er und 80er Jahren, in denen Wohnen weit draußen für manche ein Ziel ist, wird gerade das abgeschiedene Ursenbach attraktiv. Neubauten führen 1988 zu einem kurzzeitigen Spitzenwert von 212 Einwohnern in 65 Haushalten; heute sind es wieder nur noch 144.

Eine umfangreiche Erweiterung wird es jedoch nicht geben: Mit Erhebung der Nördlichen Bergstraße zum Landschaftsschutzgebiet am 1. November 1997 ist das planungsrechtlich nicht mehr möglich. Ursenbach wird also seinen beschaulichen Charakter weiter bewahren.

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