Spiegelfabrik

Wie Napoleon III. bei der Industrialisierung Mannheims half

Die inzwischen geschlossene Spiegelfabrik St. Gobain auf dem Luzenberg prägte den Mannheimer Norden fast 170 Jahre. Arbeiter lebten dort früher in einer eigenen Kolonie. Was dort geschah und welche Rolle Napoleon III. spielte

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Eva Baumgartner
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In der Spiegelsiedlung lebten Mitarbeitende mit ihren Familien auf engem Raum, genossen aber in der eigenen kleinen Stadt auch Vorteile. © Archiv Klaus Schillinger

Mannheim. Im Marchivum wurden unlängst Erinnerungen an vergangene Zeiten wach: Das Podiumsgespräch „Spiegelsiedlung und Luzenberg - erste Schritte in den Mannheimer Norden“ gab spannende Einblicke in den Alltag der Familien, die auf dem Gelände der Spiegelfabrik lebten. Klaus Schillinger, Autor des Buches „Luzenberg. Vom Beginn der Industrialisierung im Mannheimer Norden bis heute“ (Waldkirch Verlag) hat sich viele Jahre mit der Spiegelfabrik beschäftigt und plauderte aus dem Nähkästchen.

„Bahnbrechende Idee“

Dass sich die französische Glashütte ausgerechnet auf dem Luzenberg niederließ, bezeichnet er heute als „bahnbrechende Idee“, an der Napoleon eine gewisse „Mitschuld“ hatte: Denn die Franzosen befürchteten, dass Napoleon III. im Deutsch-Französischen Krieg das linksrheinische Ufer annektieren würde - Folge wäre eine einschränkende Handelspolitik zwischen Deutschland und Frankreich gewesen, Zölle hätten zudem vieles erschwert: „Deshalb war der Spiegelkonzern auf der Suche nach einem rechtsrheinischen Gelände“, erklärte Schillinger.

„Der badischen Regierung konnte das nur recht sein, denn bis dahin gab es in Deutschland keine Fabrikation von hochwertigem Spiegel- und Tafelglas“. Dass die Zutaten für die Glasherstellung - Schwemmsand zum Schleifen und Holz für die Feuerproduktion - quasi vor der Haustür lagen, der Platz zudem an einem wichtigen Schifffahrtsweg lag, gab zudem den Ausschlag für die Ansiedlung der Fabrik.

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Facharbeiter zu finden war auch damals schwer, weshalb rund 400 Arbeiter und Beamte nebst Familien mit dem Schiff kamen - Mannheim hatte zu diesem Zeitpunkt knapp über 24 000 Einwohner. Die Zahl der Arbeitskräfte sollte in der Kolonie noch zunehmen, sie stieg auf 850. All diese Menschen wurden auf dem Firmengelände untergebracht, zunächst in provisorischen Kasernen, bis schließlich eine eigene Siedlung ins Leben gerufen wurde.

Leben auf der Fabrik

Auf zehn Hektar entstanden so 19 zweistöckige Häuser mit Laubengängen. Toiletten gab es zunächst in Gärten und Ställen, erst 1892 wurden sie im Erdgeschoss angebaut, und im Obergeschoss verkleinerte man Küchen, um sie einzubauen. Waltraud Esser, die in der Spiegelsiedlung aufgewachsen ist, erinnerte sich: Ihre Familie teilte sich mit der Schwester von Fußball-Legende Seppl Herberger eine Außentoilette.

Sie selbst habe in der Kolonie eine unbeschwerte Kindheit erlebt, berichtete Esser - und erzählte viele Geschichten aus der Direktorenvilla, wo ihr Vater beschäftigt war. Der Spiegel-Chef lebte dort mit Park und Personal, rund ums Haus gab es Rehe, Fasane und Wildschweine.

Viele Reibungen auf engem Raum

Dass die Arbeiter auf dem Firmengelände lebten, hatte einen Grund - den geheimen Herstellungsprozess. Die Mitarbeiter wussten zudem nicht genau, wann der Guss startete, schliefen deshalb nachts neben dem Ofen. Von den Mannheimern wurden sie „Spiegel-Indianer“ genannt - weil die Glas-Platten mit Eisenoxid blank und durchsichtig poliert wurden, was für rötlichen Abrieb auf der Haut sorgte.

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Die Wohnungen in der Kolonie hatten zwei bis drei Zimmer: „Beamte und Meister hatten die größeren Wohnungen“, berichtete Schillinger. Familien versorgten sich mit Obst und Gemüse aus dem Garten, hielten in den Ställen Hühner, Kaninchen, Schweine oder Ziegen. Um 23.30 Uhr erklang in der Siedlung ein Horn, um Arbeiter, die um 24 Uhr zum Dienst mussten, zu wecken. Es gab auch eine eigene Polizei. „Bei Unsauberkeit auf der Straße durften sie sofort 50 Pfennig Strafe kassieren“, so Schillinger. Ohnehin lief auf engem Raum nicht alles ohne Reibereien ab: In einem Rapport-Buch wurden zwischen 1887 und 1905 mehr als 850 Verstöße vermerkt.

Die Siedlung hatte eine beeindruckende soziale Infrastruktur - mit einem Schulhaus, einer Nähschule für Mädchen und einem Kindergarten: dem ersten in Mannheim und der ganzen Diözese Freiburg. Zur Siedlung gehörte auch eine katholische Kirche. Es gab Schwestern, eine Krankenstation, eine Kantine, ein Beamtenkasino und eine Turnhalle für den Turnverein, aus dem später der TV 1877 Waldhof entstand.

Lukrative Beerdigungen

Die Verstorbenen wurden übrigens nach Käfertal auf den Friedhof gebracht, sehr zur Freude der Wirtsleute dort: „Die sagten, eine gute Beerdigung der Spiggl bringt mehr als die Käfertaler Kerwe“, sagte Schillinger. 1897 wurden Käfertal, Waldhof und Luzenberg dann eingemeindet.

Exportiert wurde das hochwertige Glas von Mannheim aus nach Osten, nach Nordeuropa, sogar Lateinamerika. Auch Bayernkönig Ludwig II. bestellte es. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 war die Fabrik in französischen Händen, aber unter dem Personal waren mehr und mehr Deutsche, weil keine Franzosen mehr zugelassen wurden. „Viele Buben aus Käfertal kamen in die Spiggl, um als Tagelöhner zu arbeiten“, so Schillinger. Nach Zwangsverwaltungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurde erweitert: 1977 war das Werk die größte Gussglashütte Europas.

Redaktion Eva Baumgartner gehört zur Lokalredaktion Mannheim.

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