Rheinau. Nein, noch nicht einmal ein Foto ist geblieben von Kurt Michaelis. Dabei führt der promovierte Chemiker lange ein beruflich und familiär glückliches Leben – bis die Nazis es jäh zerstören, nur weil er Jude ist. Zumindest dem Vergessen ist sein Schicksal jetzt endlich entrissen – dank eines Stolpersteins vor dem Haus Karlsruher Straße 6 auf der Rheinau, in dem er zuletzt wohnte.
Geboren wird Michaelis 1884 als Sohn eines jüdischen Ehepaares jedoch in Berlin. Mit seiner nichtjüdischen Frau Berta hat er zwei Kinder: Tochter Ruth, geboren 1920, und Sohn Wolfgang, ein Jahr jünger.
1930 zieht die Familie nach Mannheim, denn Michaelis wird Betriebsleiter der Schwefelsäure-Abteilung in der Kali-Chemie im Wohlgelegen. Auch nach der Machtergreifung der Nazis 1933 mit ihrer judenfeindlichen Politik hält die Firma ihn, solange es geht. 1938 geht es offensichtlich nicht mehr: Er wird entlassen, mit einer kleinen Rente, aber einer Wohnung in einem der Kali-Chemie gehörenden Haus auf der Rheinau. Karlsruher Straße 6 - eine nicht nur äußerlich respektable Adresse. Auch Rektor Zilling von der Rheinauschule etwa wohnt hier.
Im Oktober 1938 bezieht Michaelis die Wohnung, doch bereits im Monat darauf wird sie geplündert: Im Zuge der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 werden Möbel und Bücher aus dem Fenster geworfen und von verhetzten Hitler-Jungen am Bahndamm verbrannt.
In ihrem menschenverachtenden Zynismus erlegen die Nazis ausgerechnet den jüdischen Opfern des Pogroms selbst für die Schäden reichsweit eine Strafzahlung auf, die sogenannte Judenvermögensabgabe. Um die von ihm geforderten 2.510 Reichsmark aufzubringen, muss Michaelis den verbliebenen Familienschmuck und das Silberbesteck im Pfandhaus verpfänden.
Zwangsarbeit und Deportation nach Theresienstadt
Doch es kommt noch schlimmer: Der promovierte Chemiker muss als Hilfsarbeiter in einer Eisenwarenhandlung schuften. Mit dem Judenstern auf der Brust marschiert er allmorgentlich gemeinsam mit den polnischen Zwangsarbeitern durch den Stadtteil. Der Deportation der badischen Juden nach Gurs 1940 entgeht er zunächst, weil er in einer Ehe mit einer Nichtjüdin lebt. Doch auch dies schützt ihn nicht auf Dauer. Noch am 13. Februar 1945, nur 46 Tage vor der Befreiung Mannheims, wird er ins Ghetto Theresienstadt deportiert (in dem übrigens auch Margot Friedländer inhaftiert ist).
Zwar überlebt Michaelis die Haft und macht sich nach der Befreiung des Lagers am 8. Mai 1945 auf den Weg zurück in seine Heimatstadt Mannheim. Doch er ist bereits zu sehr geschwächt, stirbt daher am 17. Juni 1945 auf der Heimfahrt bei Grimma. Er wird nur 61 Jahre alt.
Seine Witwe Berta und Tochter Ruth überleben die NS-Zeit, die Mutter als Nichtjüdin, die Tochter als - gemäß der verqueren Ideologie der Nazis - „Halbjüdin“. 1947 emigrieren beide nach Israel, wo Sohn Wolfgang bereits seit 1936 in Sicherheit ist. 1957 kehrt Berta nach Mannheim zurück, wohnt einige Jahre in L 10,4-6, bis sie 1965 nach Argentinien auswandert, wo sie 1979 stirbt. Mehr ist nicht bekannt. Die Spur der Familie verliert sich. Ihr Leiden gerät, wie das so vieler Opfer, in Vergessenheit.
1990 interviewt der Autor dieses Artikels den in der Karlsruher Straße 6 aufgewachsenen Rheinauer Günter Hambücher (1929–1993), erfährt vom Schicksal von Michaelis – und erwähnt es auch in einem Beitrag zum 150. Jubiläum der Rheinau auf der „Zeitreise“-Seite des „MM“ im Dezember 2022.
Das wiederum liest Alice van Scoter, damals noch Bezirksbeirätin der Grünen. Sie regt an, Michaelis durch einen Stolperstein zu ehren. Das Marchivum mit Marco Brenneisen recherchiert über dessen Schicksal und befürwortet wie auch der Arbeitskreis Stolpersteine diesen Vorschlag. Vergangenen Mittwoch nun wurden für Michaelis und auch für Erich Fordion in der Relaisstraße 160 (über den wir noch separat berichten werden) jeweils ein Stolperstein verlegt. Übrigens die ersten in diesem Stadtteil überhaupt.
„Wir kennen keine Nachkommen von Kurt Michaelis, die hier sein könnten“, sagt Alice van Scoter, inzwischen Stadträtin, vor Ort in ihrer eindrucksvollen Rede: „Umso wichtiger ist es, dass wir hier sind.“ Zumal die Herausforderungen heute ebenfalls groß seien, wenn man an den grassierenden Antisemitismus in der Gesellschaft und weltweit denke. Der Stolperstein konfrontiere uns, so spannt die Kommunalpolitikerin bewusst den historischen Bogen zu heute, nicht nur mit der Frage, „was wir selbst damals getan hätten, sondern auch und vor allem, was wir heute tun können.“
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-stadtteile-an-wen-der-neue-stolperstein-in-mannheim-rheinau-erinnert-_arid,2306250.html