Gespräch mit Kandidaten

Wieso mehrere Mannheimer bei der Europawahl antreten

Die Linke Tanja Hilton, Sozialdemokrat Sebastian Camarero und Hannah Ziegler von der CDU, alle aus Mannheim, kandidieren bei der Europawahl am 9. Juni. Im gemeinsamen Gespräch erklären sie ihre Gründe und Pläne

Von 
Lea Seethaler und Steffen Mack
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Im Gespräch über die Europawahl: „MM“-Reporter Steffen Mack (v.l.), Tanja Hilton (Linke), Sebastian Camarero (SPD), Hannah Ziegler (CDU) und „MM“-Reporterin Lea Seethaler. © Bernhard Zinke

Mannheim. Bei Ihren Listenplätzen wird es niemand von Ihnen ins Europaparlament schaffen. Wieso kandidieren Sie dennoch?

Hannah Ziegler: Um die Menschen, die auf unserer Liste eine realistische Chance haben, zu unterstützen.

Tanja Hilton: So ist es bei mir auch. Ich sehe einen bedenklichen Rechtsruck, auch in einigen etablierten Parteien. Dagegen müssen wir alle gemeinsam ankämpfen.

Sebastian Camarero: Erstens ist mir Europa als Deutsch-Spanier eine Herzensangelegenheit. Zweitens glaube ich, die notwendige berufliche Erfahrung mitzubringen – ich arbeite im Eurosystem und bin aktuell im Bundeskanzleramt mit Europa-Angelegenheiten betraut –, um glaubwürdig für Europa werben zu können. Drittens möchte ich mich für das langfristige Ziel der Vereinigten Staaten von Europa einsetzen, wozu ein starkes SPD-Ergebnis beiträgt.

Mit wie viel Aufwand sind Ihre Kandidaturen verbunden?

Ziegler: Wenn man wie ich Vollzeit arbeitet, ist das zeitlich schwierig. Aber als unterstützende Tätigkeit geht das schon. Ich mache auch sonst viel ehrenamtlich, in der Politik wie im Sport. Daher bin ich gewohnt, mit Terminen zu jonglieren.

Hängen von Ihnen Plakate?

Ziegler: Nur von unserem Spitzenkandidaten Daniel Caspary, der in der Brüsseler CDU-Fraktion ja auch für Mannheim zuständig ist.

Ärgert es Sie nicht, dass Sie als Mannheimerin bei der Europawahl antreten, Ihre Partei hier aber nur einen Kandidaten aus Karlsruhe plakatiert?

Ziegler: Nein. Ich bin jemand, der nicht so gern im Vordergrund steht. Es macht schon Sinn, diejenigen zu plakatieren, die auf dem Wahlzettel stehen. Darauf sind bei uns in Baden-Württemberg – im Unterschied zu anderen Parteien haben wir ja auch bei der Europawahl Landeslisten – nun mal nur die ersten Zehn.

Hilton: Das sehe ich ähnlich. Da ich auch für den Gemeinderat kandidiere, bin ich auf einem Gruppenplakat zu sehen. Aber ich brauche das nicht. Es geht um Themen, nicht um Profilneurosen. Und wir haben gute Leute auf den vorderen Listenplätzen. Auf unserer Linken-Bundesliste stehen insgesamt nur 20, da haben wir viel Arbeit, im Wahlkampf das ganze Land zu beackern. Selbst für mich als nur noch ehrenamtlich Tätige ist das zeitlich sehr fordernd.

Camarero: Für mich als voll Berufstätigen, der auch eine Familie hat, ist die Kandidatur zeitlich herausfordernd. Ich bin dabei als SPD-Kandidat für die Europawahl auch für Heidelberg und den nordbadischen Raum zuständig. Ohne mein Wahlkampfteam würde ich das nicht schaffen.

Die Biografien

  • Tanja Hilton ist 50 Jahre alt und in Frankfurt am Main geboren. Sie arbeitete als Groß- und Außenhandelskauffrau, ist seit mehr als zehn Jahren aber nur noch ehrenamtlich tätig. Auf der Bundesliste der Linken kandidiert sie auf Platz 13.
  • Hannah Ziegler ist 29 Jahre alt und in Mannheim geboren, wo sie auch zur Schule ging und studierte. Die Juristin arbeitet bei der Mannheimer Versicherungsgesellschaft. Sie tritt auf Platz 11 auf der baden-württembergischen CDU-Landesliste an.
  • Sebastian Camarero ist 35 Jahre alt und in Stuttgart geboren. Zur Promotion kam der Ökonom vor zehn Jahren nach Mannheim. Er arbeitet bei der Bundesbank und ist derzeit in die Wirtschafts- und Finanzabteilung im Kanzleramt abgeordnet. Der Deutsch-Spanier kandidiert auf Platz 96 der SPD-Bundesliste. sma

Haben Sie dafür Leute eingestellt?

Camarero: Nein, das sind ehrenamtliche SPD-Mitglieder aus Mannheim und der Region, auch SPD-Ortsvereine unterstützen mich tatkräftig.

Fährt man nun durch Mannheim, sieht man fast nur Kommunalwahlplakate. Auch bei den Parteiveranstaltungen spielt Europa nur eine Nebenrolle. Nervt Sie das?

Hilton: Das ist schon frustrierend. Es wird sehr viel Energie in den Kommunalwahlkampf gesteckt, aber die Kommunalwahl läuft so nebenher.

Ziegler: Das finde ich auch schade. Allerdings habe ich dafür schon auch Verständnis. Die Entscheidungen mit noch größerer Tragweite fallen zwar in Brüssel, aber der Kindergarten in der Nachbarschaft ist vielen Menschen eben doch deutlich näher.

Camarero: Baden-Württemberg und andere Bundesländer haben beide Wahlen zusammengelegt, um die Wahlbeteiligung hochzutreiben. Das könnte man mittlerweile kritisch hinterfragen, da die Europawahlen immer wichtiger werden und alleinige Aufmerksamkeit verdienen. Dabei plakatieren wir neben unserer Spitzenkandidatin Katarina Barley auch Olaf Scholz, weil in Europa nur Fortschritt möglich ist, wenn Europaparlament und der Europäische Rat der Regierungschefs an einem Strang ziehen.

Nicht dass Sie bei Ihrer Arbeit jetzt Ärger kriegen, doch als europäischer Visionär ist Olaf Scholz bisher nicht aufgefallen, oder?

Camarero: Das würde ich so nicht sagen. Zum Beispiel hat er als Finanzminister den Corona-Wiederaufbaufonds maßgeblich vorangetrieben. Zum ersten Mal hat die EU zweckgebunden Schulden aufgenommen, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie erfolgreich zu bekämpfen. Gemeinsame europäische Investitionen könnten auch in anderen Bereichen – etwa in der Klima- oder Sicherheitspolitik – helfen, die europäische Einigung voranzubringen..

Wo sehen Sie bei der EU noch Handlungsbedarf?

Ziegler: An vielen Stellen, etwa bei der Bürokratie. Manchmal liegt das aber auch an der nationalen Umsetzung. So hat Deutschland aus den Brüsseler Vorgaben für Ehrenamtliche einen 15-seitigen Fragebogen gemacht. Ländern wie Spanien oder Italien reichen fünf bis sieben Seiten.

Hilton: Für mich ist der größte Kritikpunkt an Europa, dass das Parlament kein Initiativrecht hat, also bei der Gesetzgebung auf Vorlagen der EU-Kommission angewiesen ist.

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Wünschen Sie sich, dass die EU mehr Kompetenzen bekommt?

Ziegler: Teils, teils. Gerade in den genannten Bereichen Klima- und Sicherheitspolitik lässt sich auf nationaler Ebene wenig erreichen, das muss man europaweit versuchen.

Hilton: Für uns als internationale Arbeiterbewegung ist die größte Herausforderung der EU die Bekämpfung der Armut. Da gibt es so viel Ausbeutung in anderen Ländern, aber auch bei uns auf den Spargelfeldern. Wir brauchen dringend einheitliche und höhere Standards.

Camarero: Uns Sozialdemokraten ist das Soziale auch sehr wichtig. Beispielsweise braucht es europaweit Mindestlöhne.

Wären die 12,41 Euro, die es aktuell in Deutschland gibt, für einige andere nicht völlig unrealistisch?

Camarero: Stimmt. Aber wir brauchen keinen einheitlichen Mindestlohn, sondern individuelle Standards in allen Ländern. Auch bei Unternehmenssteuern sehe ich großen Nachholbedarf, um Schlupflöcher zu schließen. Und der Binnenmarkt hat sich zwar sehr bewährt, sollte aber in puncto digitale Transformation ausgebaut werden. Da kann die EU auch international Standards setzen, so wie sie zum Beispiel einen einheitlichen Handy-Ladekabel-Anschluss durchgesetzt hat.

Ziegler: Wobei wir auch aufpassen müssen, der Wirtschaft nicht zu viel zuzumuten. Steigender Mindestlohn, immer strengere Klimavorgaben – wenn Unternehmen gefrustet sind und etwa in asiatische Länder abwandern, ist nichts gewonnen.

Hilton: Das sehe ich anders. Wir sollten viel mehr an den kleinen Bäcker an der Ecke denken und weniger an die Großunternehmen. Ich bezweifle, dass die einfach so abwandern, dafür gibt hier viel zu viele Standortvorteile, da darf man nicht nur in Steuern und Löhnen denken. Und eines muss auch der Wirtschaft klar sein: Wenn wir den Klimawandel nicht endlich effektiver bekämpfen, ist es auch für sie bald vorbei.

Was sehen Sie aktuell als größte Bedrohung für die EU?

Hilton: Den Rechtspolismus, der sich auch in Sozialen Medien wie ein Feuer verbreitet. Bei Wahlforen etwa an Schulen ist erschreckend für mich, wie Menschen gerade in ländlichen Regionen darauf hereinfallen.

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Können Sie uns dafür vielleicht ein Beispiel nennen?

Hilton: Neulich meinte jemand im Hohenlohe-Kreis sinngemäß, man solle Flüchtlinge an der Grenze erschießen. Ich beobachte auch generell ein zunehmendes, sehr gefährliches „Wir gegen die“-Denken.

Camarero: Ich sehe den Rechtspopulismus auch als größte Gefahr. Nicht nur für die EU, sondern für unsere Demokratie insgesamt. Wir müssen den Menschen vermitteln, dass wir für Sicherheit sorgen – nach außen wie nach innen. Dazu gehört auch soziale Sicherheit, etwa durch faire Bezahlung im Beruf und durch erschwingliche Wohnungen.

Frau Ziegler, in Ihrer Union meinen viele, rechtspopulistische Parteien ließen sich über eine starke Reduzierung des Flüchtlingszuzugs kleinkriegen. Sind Sie auch dieser Auffassung?

Ziegler: Auf alle Fälle muss eine gerechtere Verteilung innerhalb der EU erfolgen. Es ist zwar verständlich, wenn Flüchtlinge vor allem ins wohlhabende Deutschland wollen, aber das geht auf Dauer nicht. Das gibt den Rechtspopulisten sonst weiter ein großes Thema.

Eine gerechte Verteilung scheitert aber am Widerstand einiger Staaten, die gar keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Nun setzt die EU auf Aufnahmelager an den oder gar jenseits der Außengrenzen . . .

Ziegler: Aufnahmelager würde ich nicht sagen, Aufnahmeeinrichtungen finde ich besser. Um ein Problem zu lösen, muss man manchmal neue Wege ausprobieren.

Hilton: Zunächst einmal sollte man wissen, dass die meisten Flüchtlinge weltweit innerhalb des eigenen Landes geflohen sind. Da finde ich es zynisch zu sagen, in Deutschland könnten wir keine mehr aufnehmen. Wir sind reich genug und haben genügend Platz. Das ist, als ob jemand in eine Kneipe mit 100 Leuten reinkäme und man würde ihm sagen: „Sorry, aber du bist jetzt zu viel.“

Geht das nicht an der Realität vorbei? Schauen Sie auf Friedrichsfeld: Wenn die Lilli-Gräber-Halle als Flüchtlingsunterkunft gebraucht wird, steht sie Vereinen und Schulen nicht zur Verfügung. Das sorgt für Verdruss. Überall in Deutschland klagen Kommunen über Unterbringungsprobleme.

Hilton: Dann muss man eben neue Unterkünfte schaffen. Wer als Flüchtling nach Deutschland kommt, kann nichts für all die Versäumnisse im sozialen Wohnungsbau. Aktuell bezahlen wir viel Geld etwa an Libyen dafür, dass sie uns Menschen vom Leib halten. Dort ist ein riesiger Sklavenmarkt entstanden. Das ist genauso eine humanitäre Katastrophe wie die Zustände sogar in Lagern innerhalb der EU, so auf den griechischen Inseln.

Ziegler: Aber man muss auch sehen, dass Flüchtlinge den Staat wie die Kommunen viel Geld kosten. Bei der Lilli-Gräber-Halle ist das Problem, dass es weit und breit keine andere Halle für Schulen und Vereine gibt. Und einen Neubau könnte die Stadt unmöglich finanzieren.

Hilton: Bund und Länder müssen den Kommunen mehr Geld für die Flüchtlingsunterbringung geben.

Camarero: Gerade Baden-Württemberg ist nicht arm. Die Landesregierung sollte die Kommunen besser finanziell unterstützen. Außerdem gilt, dass Flüchtlinge nicht nur Kosten verursachen. Gelingt ihre Integration in den Arbeitsmarkt, profitiert die Gesellschaft.

Ein letzter Punkt: Sollte man Ihrer Meinung nach weitere Staaten in die EU aufnehmen?

Ziegler: Mit rund 450 Millionen Menschen vertritt die EU nur einen kleinen Teil der Weltbevölkerung, 600 Millionen wären schon besser. Doch bevor jemand die nötigen Mindeststandards erfüllt, sollte man ihn nicht aufnehmen. Im Falle der Ukraine käme noch das Problem hinzu, dass man sich damit einen Krieg hereinholen würde.

Hilton: Bei übereilten Beitritten ist ein großes Problem, dass wir die Armut anderer Länder ausnutzen, um an günstige Arbeitskräfte zu kommen. So war es bei Bulgarien und Rumänien, so wäre es – unabhängig vom Krieg – auch bei der Ukraine.

Camarero: Das sehe ich ein bisschen anders. Man darf nicht vergessen, wie wichtig allein das Eröffnen einer Beitrittsperspektive für andere Länder ist. Bei den Westbalkanstaaten haben die damit verbundenen Reformen zu großen Verbesserungen geführt. Zudem sind EU-Hoffnungssignale für die Bevölkerung wichtig, gerade für die Ukraine.

Info: Bei der Europawahl am 9. Juni kandidieren auch einige Menschen aus Mannheim. Der „MM“ hat sich mit ihnen zu zwei Gesprächsrunden getroffen. Dies war die eine. Der Bericht über die andere erscheint in den nächsten Tagen.

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

Redaktion Steffen Mack schreibt als Reporter über Mannheimer Themen

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