Mannheim. Ganz klar: Wären treffsichere Prognosen unsere größte Stärke, müssten wir nicht bei der Zeitung arbeiten. Dann würden wir - bevorzugt mit Sportwetten - sehr viel mehr Geld verdienen. Aber nun ist es, wie es ist. Und wenn man die Mannheimer Lokalpolitik hauptberuflich beobachten darf (manchmal ist „muss“ präziser), lässt sich schon in der einen oder anderen Hinsicht vermuten, was bei der Kommunalwahl am 9. Juni passieren und wie das die Arbeit im Gemeinderat verändern könnte. Hier dazu acht Thesen.
These 1: Die politische Großwetterlage wird auch in Mannheim eine entscheidende Rolle spielen
Am 9. Juni sind nicht nur in Baden-Württemberg Kommunalwahlen, sondern auch in sieben weiteren Bundesländern. Zudem wird an diesem Tag das Europaparlament neu gewählt. Vor allem Letzteres dürfte dazu führen, dass die politische Großwetterlage am Wahltag sowie in den Wochen davor dominieren wird. Ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Thema könnte sein, ob die von der EU beschlossenen Maßnahmen zur Senkung der Flüchtlingszahlen wirken. Auch der Zustand der Ampel dürfte eine wichtige Rolle spielen. Umfragen zeigen, dass viele Menschen derzeit ein Bedürfnis verspüren, den regierenden Parteien einen Denkzettel zu verpassen. Das kann sich bessern, muss es aber nicht. Sollte die Koalition in Berlin zerbrechen, sehen manche - so angeblich CDU-Chef Friedrich Merz - den 9. Juni als idealen Termin für Neuwahlen. Wer würde dann noch über Mannheimer Kommunalpolitik reden? Zumal es in der aktuell - und vermutlich bis zur Wahl hin - kein polarisierendes Thema gibt.
These 2: Wer stärkste Fraktion wird, ist völlig offen
Insofern dürfte auch nicht unwesentlich von der politischen Großwetterlage beeinflusst werden, wer stärkste Kraft im Gemeinderat wird. Die Mannheimer Grünen profitierten da letztes Mal sehr von ihrem deutschlandweiten Höhenflug. Der ist - man denke nur an das Heizungsgesetz - vorbei. Negativ hinzu kommen ihr schwaches Abschneiden und vor allem Auftreten bei der OB-Wahl sowie die notorische Zerstrittenheit der Fraktion, die um zwei auf elf Mitglieder geschrumpft und nunmehr genauso groß wie die SPD ist. Die Mannheimer Sozialdemokraten wiederum sind in ihrer einstigen Hochburg zwar traditionell noch deutlich stärker als im Bundestrend. Aber neben der Ampel-Schwäche und einem Aderlass beim Führungspersonal leiden sie auch darunter, nach mehr als 50 Jahren nicht mehr den Oberbürgermeister zu stellen. Das tut jetzt die CDU, die auch angesichts bundespolitischer Umfragen frohlocken kann. Allerdings wird am 9. Juni nicht der enorm populäre Christian Specht auf dem Wahlzettel stehen. Zwar auch nicht mehr die Namen von Nikolas Löbel und einigen Getreuen. Die Machenschaften des früheren Kreisvorsitzenden könnte aber schon noch der eine oder andere Wähler im Gedächtnis haben.
These 3: In Mannheim drohen Thüringer Verhältnisse
So offen die Frage nach der künftig stärksten Fraktion ist, scheint doch eines sehr wahrscheinlich: Die rot-grün-rote Mehrheit dürfte fürs Erste Geschichte sein, zumal auch die Linke auf Bundesebene stark schwächelt. Ebenfalls recht unrealistisch wirkt, dass die bürgerlich-konservativen Parteien nochmal über 50 Prozent kommen, wie bei der OB-Wahl. Denn da trat ja die Mannheimer AfD nicht an, und die könnte nun - obwohl in der Lokalpolitik weitgehend unsichtbar - sehr von ihrem bundespolitischen Höhenflug profitieren. Das würde wohl dazu führen, dass es im Gemeinderat keine klassische politische Mehrheit mehr gibt. CDU, Mannheimer Liste und FDP müssen sich dann mit der Frage auseinandersetzen, ob sie es in Kauf nehmen wollen, wenn die AfD ihren Anträgen - wie mehrfach im Thüringer Landtag - zu Mehrheiten verhilft.
These 4: Es wird vor allem auf Christian Spechts Moderationskünste ankommen
Christian Specht, das lässt sich mit Sicherheit sagen, wird nicht von AfD-Stimmen abhängig sein wollen. Insofern hätte der Oberbürgermeister keine andere Wahl, als für die Beschlussvorlagen der Verwaltung jeweils fraktionsübergreifende Mehrheiten zu suchen. Dafür müsste er zumindest Teile des linken Lagers auch mit gelegentlichen Zugeständnissen an anderen Stellen bei Laune halten. Dass der Christdemokrat dazu in der Lage ist, hat er bereits mehrfach bewiesen, zuletzt bei den Haushaltsberatungen.
These 5: Die Wahlbeteiligung dürfte im Vergleich zu 2019 wieder sinken
Die Beteiligung an der Kommunalwahl dürfte wieder höher sein als die enttäuschen 32,2 Prozent im ersten und 30,9 im zweiten Durchgang der OB-Wahl (vor allem diesem Zweck dient die Zusammenlegung mit der Europawahl). Aber der schleichende Rückgang in der jüngeren Vergangenheit - Stichwort Politikverdrossenheit - könnte sich gleichwohl fortsetzen. Zumal bei der Kommunalwahl 2019 in Mannheim ein 20-Jahres-Rekord von 49,8 Prozent erreicht wurde, der kaum zu toppen sein wird. Immerhin hat die OB-Wahl im Gemeinderat einen Diskussionsprozess in Gang gesetzt, wie sich das Interesse an der Lokalpolitik über neue Beteiligungsformate erhöhen lässt. Bis Juni dürfte diese Debatte indes keine Früchte tragen.
These 6: Dem Mannheimer Gemeinderat droht eine Aufsplitterung
Sehr wahrscheinlich werden Splitterparteien somit wieder ein paar Tausend Stimmen genügen, um zumindest einen Sitz im Gemeinderat zu erobern. Nach der letzten Wahl war die Besonderheit, dass alle Einzelmitglieder in Fraktionen gelangten, insbesondere in die neu gegründete LI.PAR.Tie. Mit den in ihr Vertretenen dürfte das zwar wieder gelingen. Aber mit anderen Neuen könnte es schwieriger werden. Zumal die Fraktionsuntergrenze unverständlicherweise von vier auf drei gesenkt wurde. Damit wird ein Integrationsanreiz abgeschwächt. Und Einzelstadträte mit großem Geltungsdrang, das zeigte sich von 2014 bis 2019, müssen der Gemeinderatsarbeit keineswegs förderlich sein.
These 7: Sparen ist angesagt, lautet die Devise
Die Amtszeit des aktuellen Gemeinderats ist geprägt von Rekordinvestitionen, für Schulsanierungen und Stadtbahn, aber auch für Bundesgartenschau und Nationaltheater-Sanierung. Diese Investitionen waren zum einen möglich, weil trotz Corona-Krise die Steuereinnahmen vergleichsweise hoch waren. Zum anderen hatte Mannheim - noch viel wichtiger - umfangreiche Rücklagen. Die sind jetzt weitgehend aufgebraucht. Investitionsbedarf gibt es trotzdem noch genügend, als Schlagworte seien nur Brücken, Straßen, Klimaschutz, Stadtbücherei und Stadion genannt. Gleichzeitig werden die städtischen Sozial- und Personalausgaben weiter steigen. Zudem ist unklar, wie viel Geld Theatersanierung und Klinikum noch kosten. Klar ist dagegen schon heute: Der neue Gemeinderat wird harte Entscheidungen treffen müssen, was sich die Stadt leisten kann und will - und was nicht.
These 8: Beim Klimaschutz wagt sich keiner aus der Deckung
Fast alle finden Klimaschutz wichtig, daran gibt es keinen Zweifel. Keine Zweifel bestehen jedoch auch daran, dass das Geld dafür hinten und vorne nicht reicht. So hält Mannheim offiziell an seinem Ziel fest, bis 2030 klimaneutral werden zu wollen - und hofft weiter auf die Unterstützung von Bund und EU dafür. Angesichts der finanziellen und politischen Großwetterlage sind die Chancen jedoch verschwindend gering - was aber noch nicht alle eingestehen wollen.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-wie-sich-die-kommunalwahl-2024-auf-den-mannheimer-gemeinderat-auswirken-koennte-_arid,2162647.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Kommunalwahl am Wahlabend ohne Ergebnis? Verständlich, aber ärgerlich