Mannheim. Mehr als 12 000 Kilometer liegen zwischen Mannheim und Santiago, der Hauptstadt Chiles an der Westküste Südamerikas. Als aber am 11. September 1973 das chilenische Militär unter General Augusto Pinochet Präsident Salvador Allende stürzt, ist das auch in Mannheim Thema – vor allem die politisch links orientierte Jugend ist geschockt. „Der Putsch war eine furchtbare und einschneidende Zäsur“, sagt Bernd Köhler. Bis heute gehört der 1951 geborene Liedermacher – zeitweise unter dem Künstlernamen Schlauch – der Friedensbewegung an und ist eines ihrer prominentesten Gesichter in Mannheim. „Der 11. September 1973 hat viele Junge erschüttert.“
Köhler engagiert sich damals im JUZ. Das selbst verwaltete Jugendzentrum wurde erst im Jahr zuvor gegründet, um jenen einen Raum zu geben, die sich für Antifaschismus und gegen Kapitalismus engagieren. „Wir haben mit großer Sympathie verfolgt, was in Chile passiert“, erinnert sich Köhler an die Zeit vor dem Putsch. Allende hatte 1970 die Präsidentschaftswahl gewonnen – und das Land nach links orientiert.
Was am 11. September 1973 in Chile passiert ist
- Der 1908 geborene Sozialist Salvador Allende gewinnt im September 1970 mit Unterstützung des Linksbündnisses Unidad Popular die Präsidentschaftswahlen.
- Allende führt Chile wirtschaftspolitisch nach links, was im Kalten Krieg besonders der USA missfällt. Der CIA ist an verdeckten Operationen in Chile beteiligt, auch um die Wirtschaft zu schwächen.
- Augusto Pinochet, geboren 1915, macht Karriere im Militär. Im August 1973, wenige Wochen vor dem Putsch, ernennt ihn Allende zum Oberbefehlshaber. Zuvor war es im Zuge der schwachen Wirtschaft bereits zu innenpolitischen Spannungen gekommen.
- Am 11. September 1973 putscht das Militär gegen Allende, der sich das Leben nimmt. Pinochet wird Vorsitzender einer Militärjunta.
- Pinochet werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Nach einem Plebiszit dürfen bei den Wahlen 1989 mehrere Kandidaten antreten. Die Transition – der Übergang zur Demokratie – führt dazu, dass Pinochet nach der Wahl als Präsident am 11. März 1990 abgelöst wird. Offizielle Zahlen gehen von mehr als 3000 während der Diktatur ermordeten und verschwundenen Menschen aus.
- Pinochet stirbt am 10. Dezember 2006 mit 91 Jahren vor Abschluss eines Prozesses gegen ihn – er wird juristisch nie verurteilt.
Dann stürzt ihn das Militär. „Wir waren die ganze Nacht im JUZ und haben Banner für eine Solidaritätsaktion am nächsten Tag bemalt“, weiß Köhler noch. Es ist der Beginn der Mannheimer Solidaritätsbewegung – die viele Jahre anhält. „Sicherlich haben wir schnell demonstriert“, stimmt Johann Marin zu und fügt mit ironischem Lachen an: „Das haben wir häufig gemacht.“
Auch Marin ist im JUZ aktiv – später auch gemeinsam mit seiner heutigen Ehefrau Ulrike Süss, die den Putsch als Schülerin in Ravensburg erlebte. „Wir haben im Atlas Fähnchen auf die Länder stecken können, die befreit wurden“, erinnert sich Marin an Erfolge der politischen Linke in der politisch aufregenden Zeit.
Politische Bildung im JUZ
Es ist Kalter Krieg. Die Supermächte USA und Sowjetunion stehen sich gegenüber – Kapitalismus gegen Sozialismus. Die Jugend fühlt sich zur Sowjetunion hingezogen – hat dort laut Marin aber auch vieles kritisch gesehen. „In Chile ist ein Sozialismus entstanden, der anders und demokratischer war als den, den wir gekannt haben“, sagt Marin. „Der Putsch war der erste Rückschlag, nachdem wir gedacht haben, es geht überall voran.“ In Chile habe man zuvor den Eindruck gehabt, „dass die, die keine Stimme haben und über die niemand etwas weiß, gehört werden“, sagt Süss über die Sehnsucht nach der Politik Allendes.
Auch Mathias Kohler engagiert sich, während er an der Uni studiert und Teil des Sozialdemokratischen Hochschulbundes ist. „Als Allende gewählt wurde, war das der Beweis, dass eine Gesellschaftsreform ohne Militär möglich ist.“ Obwohl man gewusst habe, dass die Regierung mit der auch durch die US-Politik geschwächten Wirtschaft zu kämpfen hatte, sei der Putsch überraschend gewesen. „Das Schockierende war, dass er die Vorstellung von Demokratie zerstört hat.“ Wenn es ernst werde, sei eine demokratische Wahl nicht mehr relevant, beschreibt auch Bernd Köhler seine Wut.
Bereits in der Woche nach dem Putsch gründet sich das „Mannheimer Solidaritätskomitee mit der Volksfront Chiles“, dem zahlreiche Gruppen angehören, darunter Jugendorganisationen und Gewerkschaften. Neben Demonstrationen werden Spenden gesammelt und Erklärungen geschrieben.
Im JUZ finden indes alle zwei Wochen Vollversammlungen der politischen Jugend statt, auf denen die Lage in Chile und der Umgang damit diskutiert werden, wie Marin erzählt. Auch hier folgen Solidaritätsspenden oder Demonstrationen – aber auch politische und kulturelle Bildung. Köhler erinnert sich an spanische Exilanten, die im JUZ Vorträge über die spanische Revolution – General Francisco Franco putschte 1936 gegen die Regierung und führte Spanien in eine jahrzehntelange Diktatur – halten. Zudem habe es Musik von spanischen und chilenischen Künstlern gegeben.
Das Programm im Jugendzentrum ist vielfältig und wird, wie es die Beteiligten schildern, von vielen angenommen. „Durch die Auseinandersetzung mit dem Putsch in Chile sind im JUZ die Haltungen entstanden, die die Grundlagen dafür sind, wenn in Mannheim heute Tausende gegen Rechts auf die Straße gehen“, ist Kohler überzeugt.
Neben der Solidarität übt die Solidaritätsbewegung politische Kritik – am Besuch des CSU-Politikers Franz Josef Strauß in Chile, aber auch an dem des Mannheimer CDU-Bundestagsabgeordneten Kurt Wawrzik im Oktober 1973. „Für uns waren das Skandale“, sagt Marin. „Mit diesem Deutschland haben wir uns nicht identifizieren wollen.“
In den folgenden Jahren organisiert das JUZ rund um den 11. September Chile-Solidaritätstage. Neben dem 1. Mai sei jener Tag so zum wichtigsten Datum geworden, sagt Marin. „Der Putsch hat die Bewegung des Mannheimer Jugendzentrums geeint und formiert.“
Prägendes Ereignis
Das Engagement im JUZ hält viele Jahre an. Die 1983 dort gegründete Fachschaft „Internationale Solidarität“ diskutiert etwa gesellschaftspolitische Zusammenhänge und leistet Bildungsarbeit in Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie in der Friedenspolitik, der sich auch Süss und Marin bis heute verschreiben. Beide sammeln noch bis zum Ende der Diktatur 1990 private Spenden für nach Chile heimgekehrte Familien. Als Pinochet abgelöst wird, stellen sich auch die irgendwann ein. Persönliche Kontakte nach Chile aber, erzählen beide, halten noch bis rund um die Jahrtausendwende.
Und heute? Das Klima habe sich glücklicherweise verändert, ist Kohler überzeugt. „Das laute Schweigen der Politik von damals würde es heute nicht mehr geben.“ Aber auch persönlich hallt die Zeit nach. „Der 11. September hat mein Leben geprägt“, sagt Marin. Zwar habe er den Vietnamkrieg und die Studentenproteste verfolgt. „Chile hat mir aber erst gezeigt, was Antifaschismus bedeutet und wie Politik funktioniert.“
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