Mannheim. Philipp Gassert leitet den Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Mannheimer Uni. Im Interview ordnet er den Pinochet-Putsch von 1973 ein.
Herr Gassert, in meinem Umfeld gibt es viele, denen der Pinochet-Putsch etwas sagt, obwohl sie wie ich um die 30 sind und ihn nicht erlebt haben. Andere Ereignisse wie in Nicaragua oder Argentinien sind weniger präsent. Was macht den Putsch in Chile so besonders?
Philipp Gassert: Nach 1968 waren die 70er-Jahre vom Aufschwung der Neuen Linken geprägt, die das post-koloniale Denken weltweit verbreitet haben. In Chile hat es eine demokratische Entwicklung gegeben, die aus Sicht der Linken sehr hoffnungsvoll war, die aber dann zu einer konservativen oder reaktionären Gegenreaktion geführt hat. Dass der Putsch noch präsent ist, hängt damit zusammen, wofür er damals in der europäischen Wahrnehmung stand. Auch ist Salvador Allende eine sehr charismatische Figur gewesen, die für Europäer und Nordamerikaner anschlussfähig war. Außerdem wird der Putsch mit dem Hegemonialstreben der USA verbunden. Das hat ins Bild eines Wiederauflebens des Antikommunismus gepasst, das sich gegen die Freiheitsbewegungen der 68er gerichtet hat. Nach dem Putsch sind viele Chilenen in die DDR ins Exil gegangen und haben dort die Wende überdauert. Auch deshalb gibt es eine besondere Beziehung zwischen Deutschland und Chile.
Ein gutes Stichwort: Welche Rolle hatte Deutschland beim Putsch?
Gassert: In der Bundesrepublik hat man den Putsch einerseits vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs gesehen, in dem Deutschland an der Seite der USA stand. Andererseits hat es Beziehungen zu deutschstämmigen Chilenen und ehemaligen Mitgliedern der NSDAP gegeben, die in Lateinamerika allgemein Zuflucht gefunden haben und in Chile auch in der Colonia Dignidad (eine vom Deutschen Paul Schäfer gegründete Sekte, die mit Pinochet zusammengearbeitet hat und wegen diverser Menschenrechtsverletzungen weltweit bekannt wurde/Anm. d. Red.) aktiv waren. Es gab eine enge Beziehung zwischen dem Pinochet-Militär und konservativen Deutsch-Nationalen und ehemaligen Nazis.
1973 gab es in Deutschland eine sozialdemokratisch geführte Regierung mit Willy Brandt als Kanzler. Wie hat sich die Bundesrepublik politisch verhalten?
Gassert: Im Kalten Krieg hat es auch in Deutschland einen starken Antikommunismus gegeben. Wir sprechen über eine Zeit, in der die Sowjetunion versucht, in der Dritten Welt Erfolge zu erzielen. Kuba, Angola, Mosambik oder Südafrika sind da Beispiele. Für konservative Kräfte in der Bundesrepublik wie Franz Josef Strauß war Allende ein nützlicher Idiot für die kommunistischen Unterwanderungsstrategien der Sowjetunion. Der Putsch fällt in die Zeit der Domino-Theorie, nach der Regionen dem Kommunismus verfallen, wenn das ein Land tut. Das sind Punkte aus dem weltpolitischen Kontext, weshalb die Bundesrepublik den Putsch trotz Sozialdemokratie politisch kaum verurteilt hat.
Wie sind Putsch und Diktatur in Chile im Vergleich zu anderen in Südamerika einzuordnen?
Gassert: Chile hatte eine besondere Rolle, weil es dort – anders als in anderen lateinamerikanischen Staaten – lange keine Militärdiktatur gegeben hat. Im Vergleich zu Brasilien oder Argentinien war Chile eine Art Musterland. Auch deshalb war die Wahrnehmung des Putsches so stark. Pinochets Diktatur unterscheidet sich von den anderen auch insofern, weil er ein Liberalisierungsprogramm der Wirtschaft vorangetrieben hat, was andere nicht gemacht haben. Das Programm war ein Grund, weshalb sich die Militärdiktatur so lange hat halten können und weshalb 1990 ein gemanagter Übergang möglich war. Pinochet hatte – bei aller sozialen Ungleichheit und allen Menschenrechtsverletzungen, die sich fortgesetzt haben – im wirtschaftlichen Sinne größeren Erfolg als beispielsweise die Militärdiktatur in Argentinien.
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