Mannheim. „Blin-den-leit-sys-tem“, wiederholt Irmgard Reinhard aus Edigheim. „Das hab’ ich noch nie gehört. Ich dachte, das wäre zur Verschönerung der Fußgängerzone.“ Sie steht auf den Planken vor dem Kaufhof. Um sie herum ein Pulk Menschen. Journalisten, Verwaltungsmitarbeiter, Behindertenvertreter, zudem Behindertenbeauftragte Ursula Frenz und Sicherheitsdezernent Volker Proffen.
Sie haben Reinhard gerade bei einer Straßenaktion erklärt, was der weiße, gerillte Streifen auf dem Boden ist. „Also, ich hab’ was gelernt“, sagt Reinhard. Sie wirkt froh. Auch mit im Pulk: ein grelles Plüsch-Chamäleon. Es gehört zur Kampagne „Umsichtig unterwegs“, in deren Rahmen die Tour stattfindet. Das Tier hat durch seine Augen 360 Grad Rundumsicht – und steht als Metapher für mehr Umsicht.

Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt.
Vom Radler in Mannheim oft rasant geschnitten
Bastian Wurbs wohnt in der Innenstadt. Er fährt im Rollstuhl. Er sagt: „Ich habe meine festen Routen. Damit ich erst gar nicht in die Hindernisse reinfahre.“ Was nervt ihn in der Innenstadt besonders? Wo fehlt Barrierefreiheit? Wo Achtsamkeit? Wurbs sagt sofort: „Baustellen! Und ich finde es immer schlimm, wenn Fahrradfahrer sehr dicht an mir vorbeifahren und ich sie gar nicht wahrnehmen kann. Und ich nur einen Windhauch spüre. Da kriegst du Angst, du wirst mitgerissen“, sagt Wurbs. „Ganz schlimm: Wenn das auf Bürgersteigen passiert, die abgeflacht sind, so dass der Rolli nach einer Seite wegzieht.“
Was sollen die Radler machen? „Einfach hintendran bleiben, klingeln und an engen Stellen bitte einfach mal warten“, sagt Wurbs, der sich bei der AG Barrierefreiheit engagiert. Er findet es schade, dass der Verkehrsversuch mit der Sperrung beendet ist, erzählt er weiter. Und sagt über die Rangkämpfe der Verkehrsmittel auf der Straße: „Die Mentalität ist leider auch, die Straße gehört dem Auto. Dein Kopf sagt dir, wenn der Fahrer dich – unabsichtlich oder absichtlich – nicht sieht, bist du der, der verloren hat. Du liegst mit Rolli oder Blindenstock auf der Straße.“
Apropos Gefahr: Karlheinz Schneider vom Badischen Blinden- und Sehbehindertverein erzählt: „Wir hatten schon den Fall eines blinden Menschen, der ist über einen quergeparkten E-Roller gefallen und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen.“ Aber neuralgischer Punkt ist nicht nur die Innenstadt. Auch die Stadtteile haben ihre tückischen Stellen. „Zum Beispiel am Meeräckerplatz auf dem Lindenhof“, sagt Schneider. „Wenn Markt ist, gibt es als Gehwegersatz einen Leitstreifen. Immer am Markttag stehen da geparkte Autos, keine Händler, sondern die Besucher. Dann komme ich, sage was, und dann heißt es zu mir: Bin grad nur schnell rüber Blumen holen, fahr’ gleich weg!“
Schneider dazu: „Das nützt mir nix, wenn ich dann zwischenzeitlich auf der Kühlerhaube hänge.“ Er sagt, es sei „anstrengend und nervig“, tagtäglich diese Hindernisse im Weg zu haben. „Warum können die Leute nicht einfach mehr denken. Oft steckt kein böser Wille dahinter, sondern mangelndes Bewusstsein.“
Infos zur Kampagne „Umsichtig unterwegs“
- Iniitiert wurde die Kampagne vom Gehörlosenverein Mannheim 1981, der AG Barrierefreiheit Rhein-Neckar und dem Badischen Blinden- und Sehbehindertenverein.
- Unterstützt wird die Kampagne auch von der AOK Baden-Württemberg und der Rhein-Neckar-Verkehr GmbH. Erstellt hat die Kampagne die Mannheimer Content- und Digitalagentur HAAS Publishing, die zur HAAS Mediengruppe gehört, in der auch der „Mannheimer Morgen“ erscheint.
- Die Mobilitätskampagne wird von Stadt mit 60 000 Euro aus dem Beteiligungshaushalt unterstützt. Sie dauert zwei Jahre.
- Infos im Web unter umsichtig-unterwegs.de und auf Social Media www.instagram.com/umsichtig_unterwegs see
Reicht die Kampagne "Umsichtig unterwegs", um mehr Rücksicht zu erreichen?
Schneider fordert: „Stellt euer Fahrrad nicht quer, sondern an die Seite.“ Denn als die Tour losgeht, ist keine zehn Meter nach dem Start am Stadthaus ein Fahrrad an ein Straßenschild angekettet. Und zwar so, das demonstriert Schneider, während sein Stock sich in den Speichen verfängt, dass er zu 100 Prozent hinfallen würde. Reicht da eine Kampagne? „Wir wissen, wir verändern die Welt nicht über Nacht“, sagt er. „Wir sind aber fest davon überzeugt, dass unsere Kampagne Wirkung zeigt. Auch auf vielen Kanälen. Und vielleicht spricht es sich rum.“
Sicherheitsdezernent Volker Proffen läuft mit der Gruppe durch die Stadt. Er hört aufmerksam zu. Fragt viel nach. Er sagt: „Spannend. Ich fand das mit dem abgesenkten Bordstein gerade interessant. Aus meiner Perspektive war er total stark abgesenkt. Der Rollstuhlfahrer hat aber wahnsinnige Kraft gebraucht, um hochzukommen. Für ihn war es ein Hindernis.“
Und wie ausgelastet ist das Ordnungsamt mit diesen Hindernissen? Proffen: „Das ist natürlich Teil des täglichen Geschäfts. Aber oft sind Fahrzeuge oder Geräte, die im Weg stehen, gar nicht ordnungswidrig abgestellt, sondern einfach nur unachtsam.“ Man wolle gerade hier sensibilisieren, dass die Menschen ein Gespür dafür entwickeln. „Wie bei dem Fahrrad: Einfach, dass sie es so stellen, dass es keinen stört.“
Die Menschen sollten „einen anderen Blick“ entwickeln. So wie den, den auch er jetzt bereits nach diesem kurzen Rundgang habe, sagt Proffen. Den Blick, „wie und ob ich jetzt andere stören könnte – und wie man das abstellen kann“. Der solle durch die Kampagne verankert werden. Man müsse immer und an vielen Stellen am Thema arbeiten, so Proffen.
Karlheinz Schneider betont derweil zum Thema allgemeine Barrierefreiheit: „Die Stadt ist mit uns in einem wirklich guten Kontakt, auch die RNV.“ Man sei miteingebunden, prüfe Dinge. „Ich habe über die letzten Jahre hinweg erlebt, dass sich eine sehr gute Kooperation entwickelt hat. Und dass das Thema Barrierefreiheit und bauliche Barrierefreiheit bei den Planern und den Entscheidern bei Stadt oder auch RNV angekommen ist“, sagt er. „Aber es gibt immer noch Luft nach oben.“
AG Barrierfreiheit: "So könnten wir uns Stellungnahmen sogar sparen"
Auch André Neu von der AG Barrierfreiheit sagt, man werde gehört: „Wir werden bei unseren Stellungnahmen, die wir geben, schon sehr lange als Partner akzeptiert. Aber die Umsetzung ist natürlich noch mal eine andere Welt.“ Eine hilfreiche Maßnahme wäre etwa, „dass bei der Stadtverwaltung entsprechende Mitarbeiter geschult werden, dann könnten wir uns langfristig die Stellungnahmen sparen“, so Neu.
Das Ende der Tour ist gekommen. Da lacht Bastian Wurbs plötzlich. Er zeigt auf ein Auto, das gerade rasant vorbeifährt. „Der hatte als Nummernschild MA – KA. Macker“, ruft er. „Einsicht ist ein erster Weg zur Besserung“, ruft er, und sein lautes Lachen hallt durch die Fressgasse.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-wie-barrierefrei-ist-die-mannheimer-innenstadt-_arid,2181265.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/ludwigshafen.html
[2] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-chamaeleon-machts-vor-neue-kampagne-in-mannheim-_arid,2149703.html
[3] https://www.instagram.com/umsichtig_unterwegs