Mannheim. Henner Kallmeyer kann es selbst kaum glauben, dass die Zeit so schnell vergangen ist: Vor drei Monaten ist er als neunter Mannheimer Feuergriffel, als Stadtschreiber-Stipendiat für Kinder- und Jugendliteratur, in den Turm der Alten Feuerwache eingezogen, um an seiner Roman-Idee „Mein Sommer am Volksempfänger“ zu arbeiten. Nun wurde er im Dalberghaus verabschiedet.
Besonderer Rollentausch
Der Theaterregisseur aus Essen hat in dieser Zeit viel zum Nationalsozialismus recherchiert, schließlich spielt sein Buch in dieser Zeit. Das Thema geht er mit einem besonderen Rollentausch an - und lässt die 16-jährige Mara mit ihrem türkischen Ex-Freund Sefa durch einen Riss in der Zeit ins Jahr 1938 reisen, in dem die Großmutter von Mara lebt. Dass er Mara einen türkischen jungen Mann zur Seite stellt, war anfangs gar nicht geplant: „Aber Mannheim ist heute ganz anders als 1938, hier leben jetzt Menschen aus 167 Ländern“, sagt der Autor.
Die Recherche sei nicht immer einfach gewesen: „Und ab und zu habe ich mich bei dem schönen Wetter verflucht, dass ich mich mit der düsteren Nazi-Zeit beschäftige“, gibt er zu. Der Blick aus dem Fenster der Alten Feuerwache habe ihn aber beflügelt: Denn wenn er auf den Alten Meßplatz geblickt habe, sei ein echtes Wimmelbild entstanden: „Da war einmal ein Konzert mit feiernden Menschen, ein Stück weiter die Polizei, nebenan Wahlkampf, das war alles sehr inspirierend.“
Bei der Literatur-Suche ist Kallmeyer vor allem eines aufgefallen: „Dass sich die Schönfärberei-Literatur über die Nazi-Zeit so lange durchgezogen hat, bis in die 1980er Jahre, ist wirklich erschreckend.“ Heutzutage wüssten die Kinder und Jugendlichen zwar trotzdem gut Bescheid: „Aber es werden nur Geschichten über Konzentrationslager und ähnliche Dinge weitererzählt. Dabei muss auch von der mitlaufenden Mehrheit erzählt werden, die nicht hingeschaut und nichts gemacht hat.“ Er habe sich deshalb stark damit beschäftigt, „wie leicht man da reinrutscht, nichts zu machen“.
Insgesamt sei die Zeit sehr wertvoll gewesen: „Es ist ein einzigartiger Luxus, sich drei Monate lang nur um eine Sache zu kümmern.“ Er habe es deshalb auch tatsächlich geschafft, eine erste Version des Buches fertigzustellen - auch wenn diese sicherlich noch einige Male verändert werde. Für die Gäste der Abschiedsveranstaltung gab Henner Kallmeyer gemeinsam mit seiner Kollegin, der Schauspielerin Anna Staab aus Frankfurt, eine Kostprobe aus der ersten Fassung des Feuergriffel-Buches. In einem rasanten Dialog erzählte Staab als Mara dabei ihrem Freund Lasse, gesprochen von Kallmeyer, von der „Schwarz-Weiß-Zeit“ im Jahr 1938. Mara ist sich bei der ersten Zeitreise noch sicher, dass ihre Großmutter, mit der sie die Rollen tauscht, kein Nazi ist.
Nach einem zweiten Stromausfall kommt es erneut zu einer Zeitreise, diesmal ist Sefa dabei, den Mara in eine SS-Uniform steckt, damit er nicht entdeckt wird. Kallmeyer beschreibt die Verwirrung der jungen Leute auf der Straße, in der eigentlich ein Aldi-Markt steht, die aber 1938 so anders aussieht - und überall mit Hakenkreuzen bestückt ist. An einer anderen Stelle des Buches muss die Protagonistin Wolfi ins Bett bringen, den zehnjährigen Bruder ihrer Oma, in deren Rolle sie ja gerade ist. Der Enthusiasmus des Kleinen für die SS ist nur schwer zu verkraften: „Aber zehnjährige Kinder haben nun mal eine große Begeisterung für viele Dinge, und wenn es da keine Korrektur gibt. . .“, spielt Kallmeyer den Gedanken nach der Lesung weiter.
Briefträger aus der Hölle
Es wird noch erdrückender: Denn als Mara den „Briefträger aus der Hölle“ trifft, merken die Gäste im Dalbergsaal schnell, wie die Situation, die eigentlich nur den Alltag der damaligen Zeit beschreibt, immer düsterer wird. Doch die mitreißende Sprache, als Mara sich fest vornimmt, die Nachfahren des Briefträgers zu suchen, wenn sie denn wieder in ihrer Zeit ist, reißt mit, und sie macht nicht nur an dieser Stelle neugierig, wie die Geschichte weitergeht.
Auch wenn es noch einige Zeit dauert, bis das Buch druckreif ist: Bettina Harling von der Stadtbibliothek begleitet die Feuergriffel-Stipendiaten von der Bewerbung an - und wünscht Kallmeyer schon jetzt alles Gute dabei, einen Verlag zu finden: „Unsere achte Feuergriffel-Autorin, Julia Willmann, hat gerade den Korbinian - Paul Maar-Preis bekommen“, berichtete sie. Insgesamt, so Bildungsbürgermeister Dirk Grunert, seien bisher sechs Feuergriffel-Bücher erschienen.
Feuergriffel Henner Kallmeyer
- Der Feuergriffel ist das Mannheimer Stadtschreiber-Stipendium für Kinder- und Jugendliteratur und wird alle zwei Jahre von der Stadtbibliothek ausgeschrieben.
- Das Förderprogramm war lange Zeit einmalig in Deutschland. Es wird durch die GBG, die Karin und Carl-Heinrich Esser Stiftung, das Kulturzentrum Alte Feuerwache und den Förderkreis der Stadtbibliothek gefördert. Der Preis beinhaltet einen dreimonatigen Aufenthalt im Turm der Alten Feuerwache, eine Pauschale für Anreise und Lebenshaltungskosten in Höhe von 3000 Euro, 3000 Euro Preisgeld sowie 3000 Euro bei Veröffentlichung des Buches.
- Bisherige Feuergriffel-Preisträger waren Tamara Bach (2007), Antje Wagner (2009), Rike Reiniger (2011), Sasa Stanisic (2013), Tobias Steinfeld (2015), Florian Wacker (2017), Tania Witte (2019) und Julia Willmann (2021).
- Henner Kallmeyer lebt seit 2008 in Essen. Der 49-Jährige begann seine Theaterlaufbahn am Schauspielhaus Bochum. Seit 2002 ist er freischaffender Theaterregisseur und inszenierte beispielsweise am Staatstheater Hannover, Schauspielhaus Bochum, Theater Bielefeld, Grillo Theater Essen, Staatstheater Stuttgart und an den Wuppertaler Bühnen. Er unterrichtet in der Sparte „Musical“ an der Folkwang Universität der Künste in Essen.
Grunert bezeichnete die Stadtbibliothek in seiner Ansprache als „wertvolle Institution“, die viel zur Bildungsgerechtigkeit in der Stadt beitrage. Der Feuergriffel, der seit fast 20 Jahren ausgelobt werde, sei dabei ein wichtiger Bestandteil: „Wir sind überzeugt davon, dass es etwas ganz Besonderes ist, wenn Stadt und Stadtschreiber in direkten Kontakt miteinander kommen. Auch in diesem Jahr fanden zahlreiche Veranstaltungen statt.“
Der Feuergriffel ist das erste Stadtschreiberstipendium für Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland: Es wird alle zwei Jahre von der Stadtbibliothek ausgeschrieben. Unterstützt wurde das Stipendium vom Förderkreis der Stadtbibliothek Mannheim, von der GBG Mannheim, der Karin und Carl-Heinrich Esser Stiftung sowie dem Kulturzentrum Alte Feuerwache.
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