Mannheim. Wenn man in die Lieblingskneipe will, aber erst fragen muss, ob jemand die Begleitung im Rollstuhl über Stufen reinheben kann, ist klar: Der heutige Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung beinhaltet nicht umsonst das Wort „Protest“. Denn elf Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention sind „Inklusion und das Thema Barrierefreiheit nicht hinreichend umgesetzt“, wie auch Aktion Mensch betont. Der Protesttag wird an diesem Maitag schon zum 30. Mal begangen - Inklusion stagniert in vielen Bereichen, so Aktion Mensch.
Nur Eigeninteresse bei allen zieht
Sandra Fietkau forscht an der FH Ludwigsburg zu Inklusionsprozessen. Sie sagt: Wer Inklusion herstellen will, muss dies vor Ort, im Quartier beginnen. Dort, wo die Menschen (miteinander) leben. Antidiskriminierung und Gleichstellung seien auch hier bisher nicht erreicht. Doch nur vor Ort könne man sagen: Was fehlt? Was brauchen wir eigentlich im Viertel?
Zahlen und Stand der Inklusion
- In Deutschland leben nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts mehr als 12 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung. Davon sind 7,9 Millionen Menschen schwerbehindert, sie haben einen Grad der Behinderung von mindestens 50.
- In anderen Ländern, etwa Kanada, sei etwa das Thema inklusiver Unterricht früh angegangen und wissenschaftlich begleitet worden, erklärt Sandra Fietkau, die an der FH Ludwigsburg zu Inklusionsprozessen forscht. Der Wissenstand sei dort besser. In Deutschland haben nicht-behinderte Menschen und behinderte Menschen längere Zeit an anderen Orten eher getrennt gelebt, gewohnt (etwa in Sozialeinrichtungen) oder wurden etwa parallel, anstatt miteinander unterrichtet.
- Obwohl seit den 1970ern inklusive Prozesse und Forschung auch hier angestoßen wurden, seien die heute in der Breite noch nicht umgesetzt.
Nur wenn die Menschen sich vor Ort miteinander auseinandersetzten, Bedürfnisse erörterten, kämen sie voran. Etwa, wenn sie eine Einladung zum Vereinsfest für alle lesbar machen - sei es durch einfache Sprache oder in Blindenschrift. Oder am Treppenaufgang zum Gasthaus, in dem alle Generationen feiern möchten, eine Rampe bereitstellen. Fietkau hält nicht viel von temporären Förderprojekten, die ihrer Meinung nach nur kurzfristig wirkten, und keine nachhaltige Wirkung entfalteten. Es gebe zwar „tolle Projekte“, dennoch „verhallen diese dann schnell“, weil sich dann doch wieder keiner kümmere - oder es keinen interessiere. „Man muss die Eigeninitiative und Kreativität der Menschen vor Ort fördern. Denn nur, wenn es sie selbst interessiert, werden sie dran bleiben.“ Nur wenn es alle betreffe, werden alle inspiriert.
Fehler: Zwei-Gruppen-Denken
Fietkau spricht sich hierbei gegen zwei „Zielgruppen“ aus. Der Fokus solle nicht auf „Menschen mit Behinderung“ und „Menschen ohne Behinderung“ liegen. Vielmehr müsse das gesamte Viertel in seiner Vielfalt betrachtet werden. Etwa: Gibt es dort neben oben genannten Gruppen viele junge Menschen? Ältere? Familien? Migrantische Menschen? Was wollen sie? Welche Einrichtung oder Aktion würde sie alle ansprechen, zusammenbringen, vernetzen?
Genau dafür hat der Paritätische Wohlfahrtsverband Mannheim am heutigen Protesttag einen Fachtag ins Leben gerufen. Unter dem Motto „Inklusion und Zusammenleben im Quartier“ findet er in der Mannheimer Jugendherberge statt. Neben Fietkau sprechen Ursula Frenz, Behindertenbeauftragte der Stadt, und Tobias Vahlpahl, Leiter der Koordinierungsstelle Quartiermanagement. Frenz beleuchtet die Anforderungen der Quartiere, die beim Beteiligungsprozess der Stadt (wir berichteten) sichtbar wurden. Vahlpahl analysiert den Stellenwert der Inklusionsarbeit in Vielfaltsquartieren - auch mit Blick auf die Zukunft, auf das Jahr 2030.
„Ziel des Fachtags ist es, Fachleute und Organisationen, die ihre sozialen Angebote in den Quartieren vorhalten, gemeinsam mit Vertretern aus Kommune und Politik zusammenzubringen“, betont der Paritätische Wohlfahrtsverband. Sie sollen sich austauschen, neue Ideen entwickeln und Netzwerke bilden.
Denn „einiges hat sich entwickelt, bei anderen Themen gibt es noch viel zu tun“, so der Verband, der sich gemeinsam mit seinen Mitgliedsorganisationen der Vision „Mannheim 2030 ist inklusiv“ widmet. Ein Ziel, das auch die Stadt in ihrem Leitbild verfolgt.
Konkrete Ideen liegen vor
Beim Beteiligungsprozess der Stadt hatten Bürger zuletzt ein Handlungskonzept mitformuliert. Ideen reichen in verschiedenste Bereiche: So soll es vielleicht bald einen Treffpunkt für Eltern behinderter Kinder geben. Leitfäden für Arztpraxen, Therapeuten, Hebammen zum Thema Inklusion sollen bereitstehen, Repräsentanz von Behinderten bei Stellen, in Gremien, im Kulturbereich soll erhöht werden.
„Was wirklich wünschenswert wäre, ist, wenn die Mannheimer Bevölkerung und einfach möglichst viele Leute durch das Handlungskonzept verstehen, dass Barrierefreiheit jedem zu Gute kommt, dass sie ein Vorteil ist für die Gesamtgesellschaft. Und dass man damit eigentlich nichts falsch machen kann“, sagte Martin Köhl von der AG Barrierefreiheit damals beim Beteiligungsprozess. „Ideal wäre, dass man in ein paar Jahren nicht mehr darüber nachdenkt, ob etwas barrierefrei sei soll, sondern dass man davon ausgeht!“
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