Mannheim. „Wenn ich meinen Koffer am Bahnsteig ans Gleis stelle und nicht realisiere, dass das ein Blindenleitsystem ist, hat das viel mit Haltung zu tun“, bringt Ursula Frenz, Behindertenbeauftragte der Stadt, es beim „Forum Behinderung“ auf den Punkt. Sie bezieht sich auf die schmalen Streifen am Gleis, die mit Noppen und Rillen versehen sind. „Viele wissen nicht, dass das ein Blindenleitsystem ist“, sagt sie dann. „Sondern denken, dass es ein Hinweis für einen selbst ist, dass man nicht zu weit an die Kante tritt. Und wenn dann jemand kommt mit einem Blindenstock, der kommt eben nicht vorbei und stolpert fast drüber.“ Frenz spricht beim Forum über den von ihr begleiteten Beteiligungsprozess, der Mannheim in Richtung „Inklusive Stadt“ bringen soll, und der sich kritisch mit dem Ist-Zustand beim Thema Behinderung in Mannheim auseinandersetzt.
Vorlage für den Gemeinderat
An diesem Tag wird per Online-Veranstaltung der Zwischenstand des großen Beteiligungsprozesses beleuchtet, Ergebnisse werden vorgestellt. Konkret ein Handlungskonzept, das den aktuellen Stand der Beteiligung abbildet, mit zehn Punkten, die angegangen werden sollen. Davon sind noch einmal konkret Schwerpunkte formuliert, „bei denen sich mehr und schneller etwas tun muss“ (ausgewählte Beispielpunkte in der Infobox). Das Konzept soll dem Gemeinderat vorgelegt werden.
Dort stehen nun also allgemeine Handlungsfelder wie etwa Mobilität oder Bildung - genau so wie konkrete Themenbereiche. Etwa, eine zentrale Anlaufstelle für Eltern mit Kindern mit Behinderung in der Stadt zu schaffen. Die nicht nur Treffpunkt ist, sondern in der auch wichtige Informationen gebündelt auffindbar sind. "Denn oft gibt es die Informationen oder die Ansprechpartner", aber sie werden nicht erreicht, so Frenz. Als ein Beispiel nennt sie noch den das Thema, dass die duale Ausbildung stärker mit inklusiven Elementen angereichert werden soll, um die Teilhabe auch beim Thema Ausbildung zu sichern. Oder, dass Unternehmen inklusive Praktika oder ein FSJ für Menschen mit Behinderung anbieten, wie es zum Beispiel aktuell die Stadt tut. Auch die Repräsentanz von Menschen mit Behinderungen zu erhöhen, ist im Konzept festgeschrieben. Und zwar in allen Lebensbereichen: Bei Stellenbesetzungen, in Gremien, im Kulturbereich. Und dass sie etwa als Künstlerinnen und Künstler sichtbarerer werden.

Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt.
Man habe im Beteiligungsprozess die Menschen mit verschiedensten Beeinträchtigungen, Angehörige und viele mehr „sehr gut erreicht“, berichtet Frenz. Mehrere Hundert hätten sich letztendlich beteiligt. Und deshalb sind die Ergebnisse im Handlungskonzept nun auch sehr vielfältig und erstrecken sich über die verschiedensten Bereiche.
Rolle der Digitalisierung - im Beteiligungsprozess und allgemein
Maria Huber ist selbst blind, arbeitet in der IT-Branche und engagiert sich beim Badischen Blinden- und Sehbehindertenverein. Sie spricht beim Forum: „Teilhabe ist für mich unheimlich wichtig, denn man möchte mithalten mit seinen Kollegen, mit den Nachbarn und Freunden, man möchte dasselbe tun“, beschreibt sie. „Das ist manchmal echt schwierig, diese Barrieren dann zu überspringen. Gerade für mich, ich bin sehr Technik-affin, für mich war das Internet, als es angefangen hat, der Aha-Effekt, weil ich damals an Informationen gekommen bin, die ich vorher gar nicht hatte. Ich brauchte ja immer jemanden, der mir was vorgelesen hat“, sagt sie.
In Coronazeiten hätten dann viele aber schmerzlich erfahren müssen, dass eben viel Digitales auch ganz und gar nicht barrierefrei war, zum Beispiel beim Homeschooling für behinderte Kinder. Und auch Frenz betont: „Es war gar nicht so einfach, eine barrierefreie Umfrage für den Beteiligungsprozess für Menschen mit verschiedensten Beeinträchtigungen aufzusetzen.“
Auch Martin Köhl von der AG Barrierefreiheit kennt das Problem: „Manche sehen wenig, manche gar nichts, andere können es motorisch schlecht nutzen und so weiter.“ Maria Huber sagt, analoge Alternativen wie „Ticket buchen per Telefon“ müsse es trotz iPhone, PC und Co. weiter geben. „Alleine schon, wenn man auf die Altersstruktur der Menschen schaut.“ Optimal sei hybrid - „irgendjemanden vergisst man sonst immer, und das möchte man nicht“, betont derweil Köhl hinsichtlich barrierefreier Treffen.
Alle 10 Punkte aus dem Handlungskonzept mit beispielhaften Schwerpunkten
- 1. Teilhabe an Demokratie und Bürgerbeteiligung, das Forum Behinderung soll etwa fortbestehen, ein Runder Tisch eingerichtet werden.
- 2. Nutzung digitaler Angebote, z.B. Teilhabe Gehörloser im Fall von Katastrophenalarm und Sirenen.
- 3. Bauen, Barrierefrei-Experten auffindbarer zu machen, sensibilisieren.
- 4. Wohnen, z.B. genug barrierefreien Wohnraum verfügbar machen.
- 5. Mobilität/Sicherheit, barrierefreien ÖPNV schneller umsetzen.
- 6. Bildung, zentrale Anlaufstelle für Eltern mit Kindern mit Behinderung schaffen, neben dem Thema Betreuung auch das Thema Schule/Erwachsenenbildung anvisieren, mit Inklusiv-Unterricht mit Fachkräften, Bildungsunterschiede abbauen.
- 7. Arbeiten, inklusive Elemente in Dualer Ausbildung einbauen, inklusive Praktika oder FSJ anbieten.
- 8. Gesundheit und Soziales, Leitfäden für Arztpraxen, Therapeuten, Hebammen; barrierefreie Bescheide.
- 9. Kultur/Sport/Freizeit, barrierefreie Angebote, Wegweiser schaffen.
- 10. Repräsentanz von Behinderten in Lebensbereichen erhöhen, bei Stellen, in Gremien, im Kulturbereich; Künstler sichtbarer machen.
Druck versus Zeit
Oft komme Beteiligung gerade beim Thema barrierefreies Bauen „einen Ticken zu spät, aber es kann nie zu früh und nie zu spät sein für Miteinbeziehung“, findet Köhl zudem. „Es tut ein bisschen weh, dass Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, dabei, dass man gemeinsam hingeht und sich mit verantwortlichen Planern anschaut, wo das Problem ist.“ Denn oft „sieht es auf dem Plan gut aus, in der Realität geht es aber nicht.“
Neben Abendakademie-Geschäftsführerin Susanne Deß, die über „Bildung für alle“ spricht, ist auch Baubürgermeister Ralf Eisenhauer zum Forum gekommen. Er gibt Einblick, wie komplex eine barrierefreie Umgestaltung sein kann, beispielhaft an der ÖPNV-Haltestelle vor dem Rathaus: Die Liste der Akteure, die miteinander planen und kommunizieren müssen, endet in seiner Aufzählung beinahe nicht.
Eisenhauer sagt, Prozesse in der inklusiven Stadtplanung bräuchten vor allem auch Zeit. „Ich freue mich über Rückmeldungen, ob es den Anforderungen auch gerecht wird“, ruft der Bürgermeister zu Feedback auf. Köhl etwa spricht sich für eine hauptamtliche Stelle bei der Stadt eigens für barrierefreies Bauen aus, die „viele Aufgaben, die aktuell ehrenamtlich von den Interessenvertretern übernommen werden, übernimmt - was nicht heißt, dass man die Experten in eigener Sache weglässt“, so Köhl.
Eine Aufgabe, bei der jeder und jede aus der Stadtgesellschaft mitmachen muss
Ob Interviews in leichter Sprache, digitale oder analoge Workshops, Jugendgipfel und stetige Arbeitsgruppen - mitgemacht haben beim Beteiligungsprozess sehr viele: „Doch wir brauchen die ganze Stadtgesellschaft für die Umsetzung der einzelnen Maßnahmen“, so Ruth Kupper vom Team Bürgerschaft und Beteiligung der Stadt. Mit dem Konzept wolle man „den Druck weiter hochhalten, um beim Thema Inklusion weiterzukommen“, so Frenz. Auch sie betont: „Wir werden nicht müde und betonen immer wieder, dass die Aufgaben rund um Inklusion und
Barrierefreiheit Aufgaben der gesamten Stadtgesellschaft sind.“ Martin Köhl fügt hinzu: „Was wirklich wünschenswert wäre, ist, wenn die Mannheimer Bevölkerung und einfach möglichst viele Leute durch das Handlungskonzept verstehen, dass Barrierefreiheit jedem zu Gute kommt, dass sie ein Vorteil ist für die Gesamtgesellschaft. Und dass man damit eigentlich nichts falsch machen kann.“ Ideal wäre, „dass man in ein paar Jahren nicht mehr darüber nachdenkt, ob etwas barrierefrei sei soll, sondern dass man davon ausgeht!“
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-gibt-es-in-mannheim-bald-einen-treffpunkt-fuer-eltern-behinderter-kinder-_arid,1914680.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html