Rhein-Neckar. „Die größte Barriere ist immer noch die in den Köpfen der Menschen“: Rudi Bamberger ist Behindertenbeauftragter in seiner Heimatgemeinde Brühl und Mitglied des 2020 gegründeten Inklusionsbeirats des Rhein-Neckar-Kreises. Zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen wirbt er für mehr Inklusion. Gestern im Landratsamt des Rhein-Neckar-Kreises in Heidelberg, heute, 5. Mai, in Brühl (vor Edeka).
Eingeladen zu der Aktion auf dem Gelände des Landratsamts in der Kurfürsten-Anlage hatten die kommunale Behindertenbeauftragte des Rhein-Neckar-Kreises, der Inklusionsbeirat des Rhein-Neckar-Kreises, der Verein BiBeZ aus Heidelberg und die Rheuma-Liga Baden-Württemberg, Arbeitsgemeinschaft Heidelberg/Wiesloch. Unter anderem konnten die Besucher selbst in einem Rollstuhl sitzen, sich mit einem Langstock wie ein Sehbehinderter vortasten und mit einem Spezialhandschuh nachfühlen, wie eingeschränkt beweglich etwa die Hand eines Rheumakranken ist.
Test mit Rollstuhl und Langstock
Nicht jeder Behinderte findet lustig, wenn gesunde Menschen oder Kinder mit dem Rolli spaßhalber unterwegs sind. Rudi Bamberger gehört nicht zu jenen. „Wenn man mit Handicap keinen Spaß haben darf, ist für mich Schluss mit lustig“, sagt er. Immer noch gebe es in Deutschland viel Nachholbedarf in Sachen Gleichstellung, begründet Bamberger sein Engagement. Solche Barrieren, ergänzt die Kommunale Behindertenbeauftragte des Rhein-Neckar-Kreises, Silke Ssymank, seien „baulicher, kommunikativer und digitaler Art“. Die Pandemie habe Vorurteile und Berührungsängste verschlimmert.
Haltestellen nicht barrierefrei
Beispiel Mobilität: „Eigentlich sollten bis Januar 2022 alle Haltestellen barrierefrei ausgebaut sein“, kritisiert Bamberger, „davon sind wir noch weit entfernt“. Die Frist werde immer wieder verlängert, Gelder fehlten, die an anderen Stellen aus seiner Sicht großzügiger eingesetzt würden. „Präsent sein“ bei solchen Infoveranstaltungen empfindet er daher als sehr wichtig.
Eine schwere Erkrankung überwand der frühere Tauchlehrer und gelernte Maler und Lackierer zwar viel besser als befürchtet – aber sie brachte den Brühler vor 15 Jahren in den Rollstuhl. Lamentieren oder gar „pienzen“ ist gar nicht sein Ding – und das versucht er auch anderen Menschen mit Behinderung nahezubringen: „Engagiert euch lieber, das bringt allen mehr.“
9,6 Millionen Menschen leben in Deutschland (Zahl aus 2019) mit körperlichen Einschränkungen. 7,9 Millionen sind Schwerbehinderte. Nur drei Prozent dieser Behinderungen seien angeboren, 89 Prozent hingegen krankheitsbedingt.
Dass es jeden jederzeit treffen könne, ein Unfall oder eine Erkrankung in jedem Alter plötzlich das Leben komplett verändern kann, hat Bamberger tatsächlich am eigenen Körper erfahren.
Andere möchten solche Gedanken wohl eher nicht an sich heranlassen, schließt Bamberger aus Kommentaren und Reaktionen, die behinderte Menschen immer wieder hören. „Eine völlig fremde Frau hat mich mal angesehen und gesagt: So möchte ich nicht leben. Da wäre ich lieber tot“, nennt der Brühler ein Beispiel. Ein Freund von ihm, der sich mit Multipler Sklerose und nach einem Schlaganfall schwankend bewegt, wird immer wieder als „Betrunkener“ angequatscht. „Man braucht schon ein dickes Fell“, sagt Bamberger ohne Verbitterung. Gerade deshalb nimmt er sich gerne Zeit, Schulen und Konfirmanden- oder Kommunionsgruppen zu besuchen und Aufklärung anzubieten.
Politisches Engagement
Er selbst führt im Rollstuhl ein anderes Leben als vorher – hat aber auch vieles hinzugewonnen, das früher nicht zu seinem Alltag gehörte. Zum Beispiel die politische Arbeit, die ihn inzwischen landesweit mit Politikerinnen und Politikern sowie anderen Betroffenen zusammenbringt. Dass es in den Gemeinden des Rhein-Neckar-Kreises mit zusammen 550 000 Einwohnern nur zwei Behindertenbeauftragte gebe – in Brühl und in Ladenburg –, betrachtet Bamberger als unzulänglich.
Und noch ein Beispiel ärgert ihn persönlich: Anders als in Spanien oder weiteren europäischen Nachbarländern fehlten hierzulande spezielle Lifte in Schwimmbädern. Als Beispiel verweist er auf ein modernes Spaßbad im Kraichgau, wo es zwar einen Lift zum Sportbecken mit Kaltwasser gibt. „Aber Menschen mit Behinderung benötigen warmes Wasser – und an diesen Becken ist kein Lift, wir können dort nicht hinein.“ Auch hier gebe es noch viel zu tun, damit eines Tages Menschen mit und ohne Behinderung wirklich gleichgestellt sind.
Inklusion und Gleichstellung
- Rund um den 5. Mai, den Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, finden jedes Jahr deutschlandweit mehr als 600 verschiedene Aktionen und Projekte statt.
- „Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazugehört“ (Quelle: Internetseite von „Aktion Mensch“). Es ist ein Begriff aus der Soziologie und heißt „mittendrin dabeisein“.
- Das Recht jedes Menschen auf Inklusion ist in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BK) von 2008 festgeschrieben.
- 2009 hat Deutschland die internationale Vereinbarung unterzeichnet.
- Rund 20 000 Menschen mit Behinderungen leben in Heidelberg, mehr als 74 200 registrierte Schwerbehinderte im Rhein-Neckar-Kreis.
- Der Inklusionsbeirat im Rhein-Neckar-Kreis ist im Januar 2020 gegründet worden (www.inklusion-im-kreis.de).
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