Bildung

Warum die Bibliothek in Mannheim kein Ort verstaubter Bücher ist

Manch einer denkt bei Bibliothek an verstaubte Bücher. Nicht so Yilmaz Holtz-Ersahin. Im Interview erklärt der scheidende Leiter der Mannheimer Stadtbibliothek, worin er deren Bedeutung sieht

Von 
Bertram Bähr
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Sie war in den vergangenen drei Jahren einer der Lieblingsorte des begeisterten Musikers Yilmaz Holtz-Ersahin: die Musikbibliothek im Dalberghaus. © Bertram Bähr

Mannheim. Herr Holtz-Ersahin, vor ziemlich genau drei Jahren haben sie als Leiter der Stadtbibliothek begonnen, in wenigen Tagen verlassen sie Mannheim schon wieder. Warum?

Yilmaz Holtz-Ersahin: Aus familiären Gründen. Meine Frau und die drei Kinder leben in Wuppertal. Wir wollten ursprünglich als Familie in Mannheim Wurzeln schlagen. Aber zum einen hat Corona die Suche nach einer Immobilie erschwert. Zum anderen sind die Preise stark in die Höhe gegangen. Es wäre nicht möglich gewesen, den Lebensstandard, den wir jetzt haben, zu halten. Deshalb wurde daraus nichts.

Sie haben in den letzten drei Jahren unter der Woche in Mannheim gelebt?

Holtz-Ersahin: Genau. Ich habe hier ein Zimmer und war unter der Woche von der Familie getrennt. Das ist natürlich nicht schön. Hinzu kommt aber auch, dass ich mir mit 52 Jahren noch einmal eine berufliche Veränderung zutraue.

Wie sieht Ihr nächster beruflicher Schritt aus?

Holtz-Ersahin: Ich gehe nach Mönchengladbach als Fachbereichsleiter für Archiv und Bibliothek. Was die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angeht, ist das mit Mannheim vergleichbar. In Mönchengladbach gibt es aber außerdem eine schöne historische Sammlung, die aus der Franziskanerbibliothek übernommen wurde. Diese historische Sammlung interessiert mich sehr, denn ich bin ja nicht nur Medien- und Kommunikationswissenschaftler, sondern habe auch Geschichte studiert. Der Wechsel passt zu meinem Lebenslauf und meinen Kompetenzen. Für mich ist das in gewisser Weise ein Aufstieg.

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Manch einer denkt bei Bibliothek an verstaubte Bücher. Woran denken Sie?

Holtz-Ersahin: Für mich ist Bibliothek ein Ort der Begegnung, der Demokratiebildung, des Zusammenwachsens, der Kreativität. Die Bibliothek ist außerdem ein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit und zu soziokultureller Teilhabe. Die Leitlinien, die wir während meiner Zeit in Mannheim erarbeitet haben, halten auch fest: „Wir sind ein zentraler und niederschwelliger Begegnungsort“.

Dazu passt, dass Sie von Anfang an „bildungsferne“ Menschen für die Bibliothek gewinnen wollten. Würden Sie sagen, das ist Ihnen gelungen?

Holtz-Ersahin: Davon bin ich überzeugt. Ich habe versucht, Menschen zu erreichen, die wir sonst noch nicht erreichen konnten. Und zwar nicht mit Flyern. Die schönsten Broschüren nützen nämlich nichts, wenn man bildungsferne Zielgruppen erreichen möchte, Flyer werden nicht gelesen. Ganz wichtig ist stattdessen die persönliche Ansprache. Ich bin zum Beispiel im Viertel hinter dem Marktplatz von einem Laden zum nächsten gegangen, habe mich vorgestellt und gefragt: „Kennen Sie die Bibliothek? Nein? Die ist doch nicht weit weg.“ Die Menschen kann ich auch auf Türkisch oder Arabisch ansprechen. Viele haben gesagt, sie kommen. Und sie sind tatsächlich gekommen.

Um Bücher zu lesen?

Holtz-Ersahin: Nein, in erster Linie ist das für sie ein Ort des Erzählens. Orientalische Kulturen sind auch Erzählkulturen. Ich empfehle jedem, der samstags Zeit hat, mal vorbeizuschauen – in der Kinderbibliothek oder der Zentralbibliothek. Es gibt keinen Platz mehr, es ist proppenvoll. Das sind nicht die typischen „Kunden“ der Bibliothek. Sie kommen einfach, um sich dort aufzuhalten, auszutauschen, zu sprechen.

Reicht das aus?

Holtz-Ersahin: Das ist ein erster Schritt, dem weitere folgen. Wir haben hier zum Beispiel ein schönes Projekt, das Human Library heißt. Statt ein Buch auszuleihen, „leiht“ man einen Menschen, der eine „unerhörte“ Geschichte erzählt. Die Idee stammt aus Skandinavien, dort hat man auf diese Weise erfolgreich Migranten in die Bibliotheken gebracht. In Mannheim gab es bisher drei Human-Library-Veranstaltungen, im Juli 2022 und 2023 in der Zentralbibliothek und im September 2023 auf der Schönau. Weitere Termine sind in Planung.

Der zeitliche Abstand ist relativ groß.

Holtz-Ersahin: Es gibt ja noch viele andere Angebote, zum Beispiel das Sprachcafé Colibri, ein in der Regel wöchentliches Angebot in der Zentralbibliothek, der Zweigstelle Neckarstadt-West und online. Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen können hier in lockerer Atmosphäre miteinander Deutsch sprechen, Alter und soziale Herkunft sind egal.

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Aber in der Bibliothek sollte es doch auch um Bücher gehen.

Holtz-Ersahin: Natürlich. Deshalb bin ich auch sehr stolz darauf, dass ich das Pre-Text-Programm der Harvard University nach Mannheim holen konnte. Das ist eine tolle Art der Leseförderung. Bei Pre-Text werden schwierige Bücher auf kreative Art und Weise behandelt. Wir haben zum Beispiel den „Schimmelreiter“ von Theodor Fontane mit Kindern mit Migrationshintergrund bearbeitet. Das war sehr interessant, weil sie Schimmel zunächst nur von ihren Häusern kannten, nicht aber als Begriff für ein Pferd. Am Ende kam ein wirklich schönes Bild heraus, das monatelang in der Kinderbibliothek stand. Auch wenn sie der deutschen Sprache nicht so mächtig sind, werden diese Kinder niemals vergessen, was ein Schimmelreiter ist.

Bibliotheken und Demokratie gehen Hand in Hand

Sie haben die Bibliothek einen Ort der Demokratiebildung genannt. Was meinen Sie damit?

Holtz-Ersahin: Dazu erzähle ich eine ganz persönliche Geschichte. Ich stamme aus der Türkei. Als ich 1991 nach Deutschland kam, habe ich in den Bibliotheken Bücher entdeckt, die in meiner Herkunftskultur verboten waren, zum Beispiel Bücher über Assyrer, Armenier oder Kurden. Das war ein einmaliger Moment für mich, ein Moment der Freiheit. Bibliothek ist für mich seitdem ein Ort, in der jeder Freiheit genießen kann.

Diese Verknüpfung zwischen Bibliothek und Demokratie haben Sie mehrfach deutlich gemacht.

Holtz-Ersahin: Ja, zum Beispiel im Mai 2022 mit einer Veranstaltung zur Rolle der Medien und zur Meinungsfreiheit, die im Artikel 5 Grundgesetz verankert ist. Schülerinnen und Schüler diskutierten dabei mit Politikerinnen und Politikern und „MM“-Chefredakteur Karsten Kammholz. Aber ganz generell ist die Bibliothek für mich ein friedensstiftender Ort. Denn wir können hier jenseits unserer aller kulturellen Präferenzen, politischen, ideologischen, religiösen oder sprachlichen Unterschieden miteinander ins Gespräch kommen. Das ist gerade in Zeiten, in denen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet ist, umso wichtiger.

Projekte im Rahmen der Nachhaltigkeit

Die Bibliothek wird auch immer mehr ein Ort der Nachhaltigkeit. Sie haben beispielsweise im Oktober 2022 die Bibliothek der Dinge eröffnet. Was ist darunter zu verstehen?

Holtz-Ersahin: Die Idee dahinter ist ganz simpel. Viele Gegenstände, die man besitzt, nutzt man gar nicht regelmäßig, die kann man dann bei der Bibliothek ausleihen. Dank der Unterstützung des Freundeskreises können wir seit eineinhalb Jahren Dinge wie zum Beispiel Akkuschrauber, Etikettendrucker, Nähmaschine, Mini-Beamer und verschiedene Sportgeräte verleihen. Neu hinzugekommen sind zwischenzeitlich unter anderem Diascanner, Nintendo Switch oder Plotter.

Gibt es weitere Nachhaltigkeitsprojekte?

Holtz-Ersahin: Ja, eine ganze Menge. Nachhaltigkeit ist schließlich eines der Trendthemen in Bibliotheken. Einmal jährlich bieten wir zum Beispiel eine Kleidertauschparty an, die erste fand 2023 im Mai statt. Dabei kauft oder verkauft man nicht, sondern tauscht nur. Damit wir nicht mit Altkleidern überhäuft werden, kann jede Person nur bis zu sieben Kleiderstücke mitbringen. Sie müssen sauber und in einem guten Zustand sein.

Kurz bevor steht auch wieder das Projekt „Säen & Ernten“.

Holtz-Ersahin: Genau. Die dritte Auflage beginnt am 4. März. Es beteiligen sich immer mehr Stadtteil-Bibliotheken daran, mit der Zentralbibliothek sind es jetzt insgesamt sieben, so viele wie noch nie. Da kommen Menschen, die Saatguttütchen mitnehmen und in der Erntezeit Samen wieder zurückbringen. Es geht darum, für das Gärtnern zu begeistern und nebenbei die Artenvielfalt zu schützen. Unterstützung erhalten wir vom Zentralen Mannheimer Lehrgarten, vom Verein GrünWerk Feudenheim und dem Obst- und Gartenbauverein Mannheim Friedrichsfeld. Besonders freuen wir uns natürlich darüber, dass wir „Säen & Ernten“ auf der Bundesgartenschau vorstellen durften und dafür vom Local Green Deal ausgezeichnet wurden.

Apropos Buga, Sie haben sich daran ja aktiv beteiligt.

Holtz-Ersahin: Ja, mit dem Literatur- und Kulturprogramm. Dass der Stadtbibliothek diese Ehre zuteilwurde, war für mich großartig. Wir haben in unseren sechs Gartensalons und sieben Klimalesungen 1833 Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrüßen dürfen und tolle Autorinnen und Autoren gehabt. Das war wirklich ein Highlight für mich.

Wünsche für die Zukunft der Stadtbibliothek

Dazu passt auch Ihre Veranstaltungsreihe „Grüner Dienstag“.

Holtz-Ersahin: Genau. Auch die startet in wenigen Tagen, am 5. März. Umweltpädagogin Leonore Leibold geht ab 17.30 Uhr auf die Frage ein: „Wie gewinne ich mein eigenes Saatgut?“ Die Reihe ist eine tolle Möglichkeit für die Stadtbibliothek, sich als zukunftsfähige Institution zu präsentieren und neue Interessenten zu erreichen. An vorerst sechs Terminen hoffen wir mit Impulsvorträgen und der anschließenden Möglichkeit des gemeinsamen Austausches einen weiteren Anlaufpunkt für Mannheimerinnen und Mannheimer zu schaffen.

Den Neubau der Stadtbibliothek, so er denn kommt, werden Sie nicht mehr aktiv erleben. Dabei hatten Sie sich schon so sehr auf den Dachgarten gefreut.

Holtz-Ersahin: Ja, wenn das realisiert wird, werde ich mir sicher wünschen, dort zu sein. Aber ich kann ja immer wieder nach Mannheim kommen, und das werde ich auch tun. Die Stadt ist lebens- und liebenswert. Mit seinen weltoffenen, tollen Menschen ist Mannheim für mich ein Stück Heimat, das wird auch immer so bleiben.

Was würden Sie Ihrem noch zu suchenden Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin wünschen?

Holtz-Ersahin: Ich würde ihm oder ihr einen Neubau wünschen, denn die derzeitigen räumlichen Möglichkeiten sind begrenzt. Eine Stadt, in der es das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, das Technoseum, ein starkes Marchivum, eine starke Kunsthalle und ein starkes Nationaltheater gibt, braucht neben einer Universitätsbibliothek auch eine starke zentrale Stadtbibliothek.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim. Schwerpunkte: Schulen und Kitas

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