Sicherheit

Warum der Rettungsdienstplan in Baden-Württemberg rechtswidrig ist

In zehn Minuten soll Hilfe da sein, hat der Verwaltungsgerichtshof Mannheim gesagt. Doch das Land setzt das nicht um - weshalb sich nun erneut die Justiz damit beschäftigen muss

Von 
Peter W. Ragge
Lesedauer: 
Binnen zehn Minuten müsste er da sein: ein Rettungswagen, hier vom Roten Kreuz. © Michael Ruffler

Mannheim. "Ein Paukenschlag", so lautet im Mai die erste Reaktion aus Fachkreisen. Andreas Pitz geht noch weiter. Als „ein Erdbeben“ wertet er damals das Urteil, das in der Schubertstraße gefällt wird. Nur wenige Tage nach der mündlichen Verhandlung erklärt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH) die Regeln, wie schnell Rettungskräfte am Einsatzort sein müssen, für unwirksam. Aus der Schutzpflicht des Staates laut Grundgesetz leitet das Gericht „Mindestanforderungen“ an ein funktionierendes System des Rettungsdienstes ab – und sieht sie derzeit im Land nicht erfüllt. Der geltende Rettungsdienstplan sei daher rechtswidrig, weil er unter diesen Mindestanforderungen bleibe.

15 Minuten oder weniger?

Dieser Rettungsdienstplan, verfasst vom Stuttgarter Innenministerium, ist das, was die Kläger dem VGH vorlegen. Initiiert haben das Vorgehen der auf Rettungsdienst und Medizinrecht spezialisierte Mannheimer Professor Andreas Pitz sowie Stadtrat Chris Rihm (Grüne). Beide waren lange selbst im Rettungsdienst tätig. Stadträte von Grünen, SPD, CDU, FDP, ML und Linken sowie sechs Notfallmediziner, auch über Mannheim hinaus, haben sich angeschlossen. Sie sehen ihr Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt, weil der Rettungsdienst im Land „nicht leistungsfähig“ genug sei, so die Klage.

Was das Land Baden-Württemberg zur Rettungsdienstklage sagt

  • Das Stuttgarter Innenministerium hat den Vorstoß der Mannheimer Kläger, beim Verwaltungsgericht eine Umsetzung der zehnminütigen Hilfsfrist einzuklagen, nicht kommentiert. Seit dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom Mai sei „bis auf weiteres weiterhin der genannte gesetzlich vorgegebene Zeitrahmen für die rettungsdienstliche Strukturplanung maßgeblich“, hieß es auf Anfrage dieser Redaktion lediglich. Mit „Zeitrahmen“ meint das Ministerium, ohne es ausdrücklich zu sagen, offenbar die im Gesetz genannten zehn, maximal 15 Minuten.
  • Nach wie vor verteidigt das Ministerium von Thomas Strobl den 2022 vorgelegten, vom VGH verworfenen Rettungsdienstplan, der zwölf Minuten in 95 Prozent der Notfalleinsätze vorschreiben wollte. Dies sei „Abschluss eines intensiven Abstimmungsprozesses zwischen dem Land, den Hilfsorganisationen und den gesetzlichen Krankenkassen unter Beteiligung weiterer Akteure wie zum Beispiel der Landesärztekammer“ gewesen. Weil die Hilfsfrist allein „kein Qualitätsindikator“ sei, habe man neu die Prähospitalzeit als Planungskriterium eingeführt, also die Zeit, bis der Patient im Krankenhaus ist. Zudem würden Gesprächsannahme- und Ausrückzeit „in den Blick genommen und die Grundlagen für die notärztliche Bedarfsplanung festgelegt“. Danach habe man für alle 35 Rettungsdienstbereiche im Land ein gemeinsames Strukturgutachten beauftragen wollen, doch dies nach dem VGH-Urteil gestoppt. Nun wolle das Ministerium noch im Herbst einen umfangreichen Gesetzentwurf vorlegen. Welche Hilfsfrist darin vorgesehen ist, sagt das Ministerium nicht.
  • Der Mannheimer Landtagsabgeordnete und rechtspolitische Sprecher der SPD im Landtag, Boris Weirauch, begrüßt den gerichtlichen Antrag auf einstweilige Anordnung, die Landesregierung zur Beachtung der Vorgaben des Verwaltungsgerichtshofs zu verpflichten. „Wenn sich herausstellt, dass die Landesregierung die Vorgaben des VGH nicht nur unterläuft, sondern die Behörden sogar noch zu rechtswidrigen Handeln angewiesen hätte, wäre das in der Tat ein Skandal“, so Weirauch. Der Rechtsexperte der SPD fordert von CDU-Innenminister Thomas Strobl in diesem Punkt Aufklärung: „Der respektvolle Umgang der staatlichen Institutionen untereinander ist essenziell für das Funktionieren unseres Rechtsstaats“. Zudem hat Weirauch eine lange Anfrage an das Innenministerium gestellt, wie die Regierung mit ihrer Niederlage vor dem Verwaltungsgerichtshof umgeht. Darin fragt er auch detaillierte Daten zu den Hilfsfristen in Mannheim ab.

Sie umfasst noch mehr Punkte. Da geht es um die Rechte von Notfallsanitätern ebenso wie um den Plan des Landes, den Rettungshubschrauber aus Friedrichshafen abzuziehen. Aber Kernpunkt ist die Hilfsfrist. Laut Rettungsdienstgesetz soll in „möglichst nicht mehr als zehn, höchstens 15 Minuten“ Hilfe kommen.

Dann hatte das Land am 1. September 2022 einen neuen Rettungsdienstplan veröffentlicht – eine Art Rechtsverordnung, welche die rettungsdienstliche Versorgung regelt. Darin wird nur noch von zwölf Minuten gesprochen, aber lediglich für den Rettungswagen. Eine feste Frist für das Eintreffen des Notarztes gibt es gar nicht mehr.

Gesetz verletzt

Schon in der Verhandlung lassen die Richter erkennen, dass sie sich darüber sehr wundern. Eine Ministerialrätin aus dem Stuttgarter Innenministerium sagt offen, dass man bei der Hilfsfrist im Rettungsdienst „noch nie“ von zehn Minuten ausgegangen sei. „Wir haben im Gesetz zehn Minuten“, entgegnet ein Richter. „Grenzwertig“, meint ein anderes Mitglied des fünfköpfigen Senats. Und der Vorsitzende kommt zu dem Ergebnis, dass das Land „sehr eindeutig hinter den gesetzlichen Anforderungen zurückbleibt“. Man könne doch „nicht völlig außer Betracht“ lassen, dass das Gesetz von zehn Minuten spreche.

Rettungsdienst-Begriffe

  • Hilfsfrist: Laut Rettungsdienstgesetz Baden-Württemberg soll „die Zeit vom Eingang der Notfallmeldung in der Rettungsleitstelle bis zum Eintreffen der Hilfe am Notfallort an Straßen (...) nicht mehr als zehn, höchstens 15 Minuten betragen“. Ziel ist, das in 95 Prozent der Fälle zu schaffen.
  • Änderung: Per Rettungsdienstplan wurde die Frist nun auf zwölf Minuten gesetzt – aber zugleich zählen nur Rettungswagen, nicht mehr der Notarzt. Spezialfälle (Baby-Notarzt, schwergewichtige Patienten, auch eilige Verlegungen von einer Klinik in die andere) werden herausgerechnet, ebenso ist nicht mehr der „Eingang des Notrufs“ ausschlaggebend, sondern der Moment, wenn ein Disponent den Wagen losschickt.
  • Anderswo ist das kürzer: In Nordrhein-Westfalen sind es fünf bis acht Minuten, in Hessen zehn Minuten in 90 Prozent der Fälle, in Bremen zehn Minuten, in Sachsen und im Saarland zwölf Minuten.
  • Bereichsausschuss: Der Rettungsdienst ist in Baden-Württemberg den Rettungsorganisationen übertragen. Entscheidungen fallen mit den Krankenkassen im Bereichsausschuss. Die Stadt hat nur Gastrecht. Auf Landesebene gilt das ebenso. pwr

Im Urteil schreiben sie das der Landesregierung dann sehr deutlich ins Stammbuch. Sie beziehen sich auf das Grundgesetz (Art. 2, „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“). Die Richter werfen der Landesregierung vor, dass in ihrem Rettungsdienstplan das geltende Gesetz „vollständig außer Acht gelassen wird“. Die Bestimmungen zur Hilfsfrist im Rettungsdienstplan, sprich die neuen zwölf Minuten, seien „materiell rechtswidrig, weil sie nicht mit den gesetzlichen Vorgaben vereinbar sind“, sondern hinter den gesetzlichen Vorgaben zurückbleibe. Da sei „der Gestaltungsspielraum überschritten“, so der Senat.

Damit stellt der VGH klar, dass die seit Jahren in Baden-Württemberg vorgenommene Bedarfsplanung für den Rettungsdienst gegen das Gesetz verstoßen hat – denn da werden den Kapazitäten stets nur 15 Minuten zugrundegelegt. Zudem rügen die Richter ein paar Detailregelungen. So sei „nicht sichergestellt, dass der Hilfsfristbeginn dauerhaft gesetzeskonform definiert wird“.

Es sei auch nicht korrekt, nur Fahrten mit Blaulicht und Martinshorn einzurechnen. Ferner müssten Notfälle innerhalb von Kliniken, bei denen ein Rettungswagen hinzugezogen werde, sowie Einsätze mit schwergewichtigen Patienten (für die es spezielle Fahrzeuge gibt), mit Babys und Kleinkindern auch in die Berechnung einbezogen werden. „Die gesetzliche Hilfsfrist gilt uneingeschränkt auch für diese“, so der Verwaltungsgerichtshof.

Newsletter "Guten Morgen Mannheim!" - kostenlos registrieren

Passiert ist seit dem Urteil nicht viel. Das Innenministerium zieht sich darauf zurück, dass das VGH keine Sofortmaßnahmen, welche die Kläger zur Einhaltung der Zehn-Minuten fordern, verlangt hat. Zuständig seien Krankenkassen und Hilfsorganisationen. Der Rettungsdienstplan, den das Gericht für rechtswidrig erklärt hat, ist aber weiter in Kraft. Und das Ministerium hat ausdrücklich abgelehnt, darauf berufende Detail-Rettungsdienstpläne für einzelne Städte oder Landkreise aufzuheben.

In zwei Schreiben des Ministeriums, die dieser Redaktion vorliegen, heißt es: Die zehnminütige Hilfsfrist gelte als erfüllt, wenn sie in 75 Prozent der Fälle eingehalten wird. Die Vorgabe der Richter „weicht deutlich von den Realitäten der Notfallrettung ab“. Das Ministerium sehe da „grundsätzlichen Handlungsbedarf“, der aber „wegen der damit verbundenen technischen und regulatorischen Anpassungen nicht kurzfristig umsetzbar ist“.

Die Kläger sind empört. „Hierdurch gilt in Baden-Württemberg faktisch eine rechtswidrige Rechtslage fort“, sagt Pitz. „Die Missachtung geltenden Rechts und die rechtswidrige Weisung der faktischen Formgebung der für unwirksam erklärten Norm des Rettungsdienstplans“, so Pitz, versuche das Ministerium „offenbar damit zu rechtfertigen, dass ihm die Anwendung geltenden Rechts unmöglich sei“.

Mehr zum Thema

Kommentar Baden-Württemberg ignoriert das Recht

Veröffentlicht
Kommentar von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren
Sicherheit

Neue Rettungswache in Mannheim-Casterfeld geplant

Veröffentlicht
Von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren

„Höchst ungewöhnlich“

So steht es in einem neuen Schriftsatz, den Pitz nun verfasst hat. Die meisten bisherigen Kläger tragen ihn mit – nur die CDU, für die sich zuvor stellvertretend Stadträtin Marianne Seitz bei den Klägern einreihte, ist nicht mehr dabei. Schließlich geht es jetzt auch direkt gegen das Innenministerium. Es soll durch einen beim Verwaltungsgericht Stuttgart gestellten Antrag per Erlass einer einstweiligen Anordnung gezwungen werden, die Zehn-Minuten-Frist umzusetzen und alle Beschlüsse, die dagegen sprechen, aufzuheben.

Solch ein Antrag ist ungewöhnlich; es gibt auch kaum formale Regeln dafür. „Aber es ist ja auch höchst ungewöhnlich, was da passiert“, sagt Pitz: „Der Rechtsstaat geht ja davon aus, dass sich der Staat an Urteile seiner Gerichte hält!“ Weil das Land das nicht tue, müsse man eben erneut den Rechtsweg beschreiten, weil sonst weiter das Grundrecht auf Leben verletzt werde.

Über Leben und Tod

Für „skandalös“ hält Stadtrat Chris Rihm das „stoische Festhalten des Landes an einer rechtswidrigen Hilfsfrist“ – aber nicht nur juristisch, sondern auch politisch. „Da maßt sich das Land an, über Leben und Tod zu entscheiden“, kritisiert er. Denn mit jedem Tag, an dem die Retter später als vom VGH festgelegt kommen, bestünde ja „die Gefahr schwerer gesundheitlicher Schädigungen oder gar Tod“, wie es in dem neuen Schriftsatz heißt.

Rihm fürchtet zudem, dass das Land das Urteil politisch aushebeln will. Schließlich hat das Innenministerium für den Herbst einen Gesetzentwurf angekündigt, wonach eine zwölfminütige Hilfsfrist eingeführt wird. Damit entfiele die vom VGH festgestellte Rechtslage. Bis dahin solle offenbar die Bevölkerung „über den tatsächlichen Zustand des baden-württembergischen Rettungsdienstes getäuscht werden“. Schließlich hält das Land die Daten dazu unter Verschluss. Die Kläger verlangen daher, das Land solle veröffentlichen, in welchen Städten und Kreisen bisher wie oft die Zehn-Minuten-Frist und die 15-Minuten-Frist überschritten wird. Denn selbst die 15 Minuten würden ja „flächendeckend“ verpasst, weiß Pitz.

Redaktion Chefreporter

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen