Mannheim. Eine vierköpfige Familie, die auf gerade mal zehn Quadratmetern ohne Küche und Toilette leben muss, Bilder von Kindern, die auf der Straße mit einem Hund mit Maulkorb spielen und vermüllte Hofeinfahrten: „Zwei Quadratkilometer Stress – Hilfe für einen Stadtteil“ lautet der Titel einer neuen Folge der ZDF-Serie „37 Grad“. Vorgestellt wird die Arbeit von Julia Wege, Leiterin von Amalie, der Diakonie-Beratungsstelle für Prostituierte, von Stefan Semel, dem Leiter des Vereins Aufwind und Peter Deffa, Leiter der Neckarschule. Die Reaktionen auf die Ausstrahlung sind jedoch sehr geteilt. Wir hörten uns nach dem Sendetermin bei Neckarstädtern, der Stadt, Betroffenen und Einrichtungsleitern um.
„Die Reportage ist eine große Enttäuschung“, gesteht Petar Drakul, Leiter der lokalen Stadterneuerung, auf Anfrage dieser Redaktion. Etliche Aktivitäten und Bemühungen von Fördervereinen und Einrichtungen würden in dem Beitrag nicht berücksichtigt: „Von einem öffentlich-rechtlichen Sender hätte man etwas anderes erwarten dürfen“, findet Drakul: „Es fehlt jede Analyse und Einordnung.“ Das ZDF habe trotz ausführlicher Vorgespräche und Informationen „weggelassen, was nicht passt“. Dazu zähle das Engagement der Menschen, die auch im Quartier wohnen und leben: „Das heißt, neu gegründete Vereine und Initiativen, die bereits aktiv sind, oder Spenden, die eingeworben werden.“
Persönliche Enttäuschung
Nicht thematisiert würden in dem Film auch das große Interesse des Gemeinderats und das Engagement von Stadt und Polizei im Quartier: „Und dieses Engagement ist auch erforderlich, denn der Weg, um die Neckarstadt West insgesamt zu stabilisieren, ist noch weit. Davor verschließen wir auch nicht die Augen, sondern machen immer wieder selbst auf die Probleme aufmerksam.“ Die These vom „vergessenen Stadtteil“ sei „absurd“. Eine von dieser Redaktion erbetene Stellungnahme hat das ZDF am Mittwoch nicht abgegeben.
Diese These, so vermutet Drakul, habe bereits vor den Dreharbeiten festgestanden. Die Verärgerung im Quartier und die persönliche Enttäuschung, die die Stadt nach der Ausstrahlung der Reportage erreicht habe, könne er nachvollziehen: „Wir waren gespannt auf den Film, der schön ist für die drei Akteure, die sich ehrenhaft beruflich engagieren. Die anderen, die sich einsetzen, sind frustriert. Image, Selbstwertgefühl, Engagement und Stolz auf den Stadtteil sind damit nicht gewachsen.“ Dem schließt sich Tobias Vahlpahl, Koordinator des Quartiermanagements, an.
Zu den Film-Akteuren gehört Julia Wege, die zu bedenken gibt, dass die Reportage keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erhebe, sondern bewusst ein Schlaglicht dort hinlenke, wo keiner hinsehen wolle: „Aber sie gibt die Realität hier im Stadtteil wieder.“ Sie habe die Sendung gemeinsam mit ihrem Team und Frauen angeschaut, die in der Prostitution arbeiteten und mit Beginn der Corona-Pandemie und des Kontaktverbotes in dramatische Situationen gerieten. Sie alle hätten die Dokumentation als sehr realistisch empfunden. Zudem hätten sie viele positive Reaktionen von Zuschauern, nicht nur aus Mannheim, sondern bundesweit erhalten: „Darunter auch sehr viele spontane Spendenangebote.“ Auch sie hätte sich mehr positive Aspekte aus der Neckarstadt gewünscht: „Die wurden auch gefilmt.“ Aber mit Beginn der Pandemie hätte das Team viele Interviews und Szenen neu drehen müssen. Etliches Filmmaterial habe dann gekürzt werden müssen.
Stadt kam nicht zu Wort
Darunter auch Einschätzungen von Kommunalpolitikern, wie die der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Melis Sekmen. Auch sie vermisst in der Reportage den Fokus auf städtische Erneuerungsmaßnahmen und die in diesem Bereich tätigen Ehrenamtliche „die vor Ort eine tolle Arbeit leisten“. Das sieht Grünen-Stadtrat Markus Sprengler ganz ähnlich. Ohne die „gute Arbeit“ von Amalie, Aufwind und der Neckarschule schmälern zu wollen, sei „die gesamte Sendung ein Schlag ins Gesicht, für die vielen anderen Aktiven im Kiez“. Gute Projekte, wie Quartiermanagement, lokale Stadterneuerung, die Neckarstadt Kids, die seit Jahren für den Stadtteil kämpften, seien nicht gehört worden: „Zugunsten eines unausgewogenen und tendenziösen Berichts, über einen schwierigen, aber sich entwickelnden Stadtteil, in dem ich als Stadtrat auch wohne und arbeite.“
Nichtsdestotrotz beleuchte die Dokumentation nach Ansicht von Sekmen die Herausforderungen und die Schattenseiten des Stadtteils, angefangen von der Kinderarmut, menschenunwürdigen Lebenszuständen bis hin zur Prostitution: „Da gibt es nichts schönzureden. Wer heute die Mittelstraße und die Seitenstraßen nach dem Neumarkt runterläuft, kann diese Zustände beobachten.“ Dem stimmt auch Luise Wenzlaff, Chefin des Cafés Mohrenköpfle in der Mittelstraße, zu: „Das war eine sehr realistische Sendung, genau so ist es hier. Nicht an allen Ecken, aber an vielen.“ Dennoch leiste beispielsweise die Neckarschule „tolle Arbeit“, wie sie betont: „Alle meine Enkelkinder haben dort die Schulbank gedrückt. Und aus allen ist was geworden.“
Zwei Quadratkilometer Stress - Hilfe für einen Stadtteil
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