Deutsche Geschichte

Vortrag in Mannheim: Wie ein Teddybär bei der Flucht aus DDR half

Joachim Neumann hat Tunnel gebaut, durch die 89 Menschen aus der DDR geflohen sind. In Mannheim-Feudenheim stellt Maja Nielsen ihren Jugendroman „Der Tunnelbauer“ vor, der seine Geschichte erzählt. Der Tunnelbauer beeindruckt

Von 
Sebastian Koch
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Eingeschworenes Team: Joachim Neumann und jener Teddybär, der seiner damaligen Freundin Chris einst zur Flucht aus der DDR verholfen hat. © Sebastian Koch

Mannheim. Die Luft am Ende des Tunnels ist dünn. Es ist eng. Dunkel. Der Mann muss krabbeln. Er flucht, um sich zu motivieren. Ventilatoren blasen durch ein Rohr frische Luft in die stickige Grube. Wahrscheinlich schwitzt der Mann auch ziemlich.

Schließlich graben sich er, Joachim Neumann und seine Mitstreiter in ein paar Meter Tiefe durch Berlin. Der Tunnel reicht von der Bernauer Straße im Westen bis zu einem Keller im Osten der Metropole und ist die Hoffnung für viele Bekannte, die in der DDR leben. Sie alle wollen fliehen. In den Westen. In die Freiheit.

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"Joachim Neumanns Geschichte ist die einer großen Wut auf das System. Sie ist gleichzeitig aber auch die Geschichte einer großen Liebe“, erzählt Maja Nielsen. Auf Einladung des Feudenheim-Gymnasiums stellt die Autorin in der Johanneskirche gemeinsam mit Joachim Neumann ihren Jugendroman „Der Tunnelbauer“ vor, der auf der Biografie des damaligen Studenten beruht.

„Der Tunnelbauer“ Neumann flieht mit falschem Pass aus der DDR

Seine Geschichte habe eigentlich mit einer Nichtigkeit begonnen, wie Neumann sagt. Gemeinsam mit Freunden verbringt er einen Urlaub an der Ostsee. Als auf einem Volksfest Jugendliche zu westlicher Musik tanzen und deshalb die Polizei anrückt, verteidigt ein Freund aus Neumanns Gruppe die Jugendlichen gegen die Staatsmacht.

Er wird deshalb festgenommen, verhört und als vermeintlicher Rädelsführer später zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. „Das muss man sich mal vorstellen: für nichts und wieder nichts. Eine Nichtigkeit. Man ist zur falschen Zeit am falschen Ort, und dann bist du acht Jahre deines Lebens los“, sagt Neumann. „In diesem Land wollten wir nicht mehr leben.“

Die Kirche ist gut gefüllt. Schätzungsweise mehr als 100 Menschen sind gekommen - nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch Ältere, die teilweise, wie sie erzählen, selbst in der DDR gelebt haben. Nielsen und Neumann zeigen Bilder von damals: die Grenze, zubetonierte Fenster, Eindrücke aus dem Tunnel - und natürlich Neumann als jungen Mann mit vollem, schwarzen Haar.

Mit einem falschen ausländischen Pass, den ihm Helfer besorgt haben, gelingt Neumann die Flucht. Seine Freundin Chris aber kann nicht mit. Er verspricht, ihr bei der Flucht zu helfen.

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In West-Berlin knüpft Neumann Kontakte zu Kommilitonen, die einen Tunnel graben wollen. Das sei die einzige Möglichkeit gewesen, vielen auf einmal die Flucht zu ermöglichen, sagt Neumann. Je nach Zählung gab es 40 bis 70 Tunnel - „meistens von West und Ost“, sagt Neumann. Er selbst hat bei mehreren mitgewirkt.

Der Abend ist abwechslungsreich gestaltet. Lesungen aus Nielsens Jugendroman werden mit Passagen aus dem Hörbuch sowie vor allem den Gesprächen zwischen Autorin und Zeitzeugen ergänzt. Eine Geschichtsstunde der anderen Art.

Es fällt schwer, sich vorzustellen, welche Logistik die etwa 20 Studenten damals haben stemmen müssen, um einen 140 bis 145 Meter langen Tunnel zu bauen. Zwischen alten Leitungen graben sie sich durch das Fundamt, können sich währenddessen nur robbend fortbewegen. „Ein Tunnel ist in etwa so hoch wie ein Tisch“, sagt Neumann.

Tagelang verschanzt sich die Gruppe in dem Keller in einem stillgelegten Gelände unmittelbar vor der Grenze zu Ost-Berlin. Von dort aus können DDR-Posten in den Westen schauen.

„Wir haben befürchtet, dass es auffällt, wenn wir jeden Morgen und Abend Schichtwechsel gemacht hätten und nach Hause gegangen wären“, sagt Neumann. „Deshalb haben wir unterirdisch gelebt.“ Die Angst, ein Spitzel der Stasi könnte Gruppe und Tunnel verraten, ist dabei immer präsent.

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Verraten wird das Projekt nicht. Aber es gibt ein anderes Problem: Wegen eines Wassereinbruchs muss die Gruppe die Öffnung des Tunnels vorziehen: Am 14. und 15. September 1962 gelingt 29 Menschen die Flucht. Chris aber ist im Urlaub, und verpasst aus diesem Grund die spontan vorgezogene Flucht.

Tunnel 29 - die Anzahl der Geflüchteten ist namensgebend - geht in die Geschichte ein. Er ist heute Teil der Dauerausstellung an der Berliner Mauer und diente unter anderem als Grundlage für den 2001 ausgestrahlten, fiktionalen Fernsehfilm „Der Tunnel“.

Detailliert schildern Neumann als Zeitzeuge und Nielsen in ihrem Roman und in der Kirche die nächsten Monate, in denen er alles daran setzt, seine Freundin in den Westen zu holen. Ein weiterer Tunnel wird verraten - und Chris verhaftet.

Applaus in der Feudenheimer Johanneskirche

Lesenswert und mitreißend erzählt Nielsen das eindrucksvolle Stück deutscher Geschichte, in der Neumann am Bau weiterer Tunnel mitwirkt - darunter Tunnel 57, der als längster (145 Meter) und tiefster (zwölf Meter) Fluchttunnel gilt.

Als Chris vor der Öffnung eines weiteren Tunnels überraschend freikommt, bricht bei Neumann Hektik aus. Er kann nicht in den Osten reisen, die Zeit aber drängt. Wie also der Freundin Bescheid geben? Das gelingt über viele Ecken - letztlich auch mit einem Teddy als Erkennungszeichen, den Neumann unter Applaus der Johanneskirche präsentiert.

Der Tunnelbauer hat 89 Menschen zur Flucht verholfen. Offizielle Zahlen gehen davon aus, dass insgesamt mehr als 250 Menschen durch Tunnel aus der DDR geflohen sind.

Neumann und Chris heiraten und bleiben bis zu ihrem Tod ein Paar, antwortet der Rentner einer Schülerin. Er selbst studiert Bauingenieurwesen - und ist später auch am Bau des Eurotunnels im Ärmelkanal beteiligt. „Das war allerdings eine andere Art des Tunnelbaus“, scherzt er. Einen Teddybären dürfte er dazu auch nicht gebraucht haben.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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