Mannheim. Eine Theater-Spielzeit ohne Zuschuss aus der Stadtkasse, nur finanziert mit Eintrittsgeldern? Heute unvorstellbar - aber 1945 passiert, unter ebenso unvorstellbaren Zuständen. Begonnen hat diese Spielzeit vor genau 80 Jahren am 11. November 1945, als sich gut sieben Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs erstmals der Vorhang für das Nationaltheater im ehemaligen Kino Schauburg in K 1 hebt, das dann bis zum Umzug an den Goetheplatz 1957 provisorische Heimat des Theaters ist.
Mannheim im Herbst 1945 - das bedeutet, dass mehr als drei Viertel der Bausubstanz in Trümmern liegen, sich rund vier Kilometer Schutt auftürmen, von ehemals 87.000 Wohnungen nur rund ein Fünftel den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs überstanden haben. Vom Straßenbahnnetz sind weniger als zwölf Prozent befahrbar. Dafür fährt die Trümmerbahn durch die Quadrate, um den Schutt wegzuschaffen. Menschen hausen in Bunkern, Ruinen, Kellerlöchern, und sie leiden Hunger, viel Hunger. Aus der Pfalz kommt kein Gemüse, denn das gehört zur französischen Besatzungszone. Der Rhein ist die Grenze.
In dieser Lage an Theater zu denken, könne „fast als Vermessenheit erscheinen“, formuliert Carl Onno Eisenbart in seinen Erinnerungen. Seit den 1930er Jahren Theaterkritiker der „Neuen Mannheimer Zeitung“ und bis zur Einstellung des Blatts nicht durch Nazi-nahe Formulierungen aufgefallen, wird er von der amerikanischen Besatzungsmacht mit der Aufgabe betraut, das kulturelle Leben wieder zu beleben. An seiner Seite: Richard Laugs, Komponist und Lehrer einer Meisterklasse an der Musikhochschule. Doch der Vorstoß der Amerikaner sei „angesichts der trostlosen äußeren Lebensbedingungen zunächst mit skeptischer Zurückhaltung aufgenommen worden“, so Eisenbart.
Erste Konzerte finden in der Christuskirche statt
Schließlich ist das in der Ära von Kurfürst Carl Theodor erbaute Nationaltheater in B 3 durch Bomben völlig zerstört, und auch sonst gebe es „keinen Saal mehr in Mannheim, der für künstlerische Veranstaltungen geeignet wäre“, so Eisenbart, als er sich 1954 an die Aufbauzeit erinnert.
Aber die Amerikaner drängen darauf, dass sich etwas tut. Auf einen Aufruf hin melden sich 57 Orchestermusiker und Mitglieder des Opernensembles, die im Krieg gewesen oder als Hilfsarbeiter irgendwo untergekommen waren. Ein Konzert am 21. Mai und Haydns „Schöpfung“ am 12. August 1945, beides in der Christuskirche, stellen die ersten Aufführungen nach dem Krieg dar. Zwei weitere Abende mit der „Schöpfung“ sowie vier Sinfoniekonzerte folgen. Für weitere Liederabende und Konzerte stellen die Amerikaner das von ihnen beschlagnahmte Kino Ufa-Palast in N 7 zur Verfügung. „Der ideelle und materielle Erfolg dieser Veranstaltungen übertraf die gehebten Erwartungen“, so Eisenbart rückblickend. Das habe allen Beteiligten Mut gegeben.
Die erste Operninszenierung, Rossinis „Barbier von Sevilla“, ist sogar - heute undenkbar - früher fertig als geplant und feiert am 9. Oktober im Ufa-Palast Premiere. Vier ausverkaufte Abende wird gespielt, zudem gastiert das Mannheimer Ensemble in Heidelberg. In K 1 wird länger gearbeitet als gedacht. Aber auch da hilft die Besatzungsmacht. Die während des Krieges in einem Heilbronner Salzbergwerk, 300 Meter unter der Erde, ausgelagerten Kulissen, Instrumente, Noten und Kostüme werden mit Lastwagen der amerikanischen Militärregierung wieder nach Mannheim gekarrt. „Jeder noch so kleine Kanister mit Farbe, jeder Fetzen Stoff galten als unerhörte Kostbarkeiten“, schreibt Eisenbart in seinen Erinnerungen: „Es fehlte an allem und jedem!“ Für die Bauarbeiter in K 1, die auch sonntags arbeiten müssen, gibt es zusätzliche Lebensmittelkarten: 50 Gramm Fleisch, 50 Gramm Kartoffeln, fünf Gramm Fett mehr - pro Woche.
Die Intendanz und Verwaltung bezieht ihr Büro im unzerstörten Teil der Kunsthalle, wobei es „für den Intendanten keinen Schreibtisch, ja kaum einen Stuhl gab“, so Eisenbart. Nebenan ist auch das Standesamt untergebracht, zwischendurch wird dort geheiratet, nebenan Theater geplant und geprobt. Es sei eine „aus dem Nichts schöpfende Improvisation“, beschreibt der Intendant die Anfänge.
Publikum geht auf abenteuerlichen Wegen nach Hause
Am 11. November 1945 ist es soweit - Premiere mit „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal, auf einer nur vier Meter tiefen und acht Meter breiten „Liliputbühne“, wie Eisenbart sie nennt, mit 950 Zuschauerplätzen. Sie gilt als die primitivste Behelfsbühne des deutschen Nachkriegstheaters, für die Künstler gibt es keine Toiletten. „Aber unter dem Gesichtspunkt der damals allein ausschlaggebenden, heute kaum mehr vorstellbaren Härte der Realitäten empfand man die mit der Errichtung dieser Notbühne verwirklichten Möglichkeiten fast wie ein Geschenk des Himmels“, so der damalige Intendant. Die Stimmung am Premierenabend habe „zwischen Erhebung und Nachdenklichkeit“ geschwankt, sei es doch komisch gewesen, dass „Theater gespielt wird, während ringsum noch Trümmer aufragen“, so Kurt Heinz, später Theaterkritiker des ab 1946 erscheinenden „Mannheimer Morgen“. „Tief berührt, betroffen verließen die Besucher dieser Premiere den Saal, gingen auf damals noch abenteuerlichen Wegen nach Hause, wie immer dieses Zuhause aussehen mochte“, so Heinz in seinem Rückblick auf 1945.
Aber das Publikum strömt: „Es gehört zu den unerklärlichen Vorgängen dieser qualvollen Zeit, dass sich in Mannheim Menschen fanden, die durch die Tat bewiesen, dass auch auf verbrannter Erde die Einwohner einer Stadt nicht ohne geistige Nahrung leben wollten“, kommentiert Dramaturg K. F. Reinking die erste Spielzeit.
Als zweite Premiere folgt am 18. November Beethovens „Fidelio“. Insgesamt gibt es in dieser ersten Spielzeit 19 Bühnenwerke, darunter sieben Opern, neun Schauspiele, eine Operette, ein Tanzabend und ein Märchen, dazu Konzerte und Bunte Abende – insgesamt 337 Aufführungen, dazu Gastspiele in Heidelberg. Der Andrang ist so groß, dass sich das Haus allein aus dem Kartenverkauf finanzieren kann, ohne städtischen Zuschuss.
Eisenbart bleibt aber nur ein Jahr Intendant und kehrt dann in seinen ursprünglichen Beruf zurück. Ab 1947 wird zusätzlich im teilweise wieder aufgebauten Rosengarten gespielt. Schon ab 1946 spart die Stadt für einen Theateraufbaufonds, doch den macht die Währungsreform 1948 zunichte. Da gehen auch die Zuschauerzahlen rapide zurück. Oberbürgermeister Hermann Heimerich erwägt daher 1949 gar, ein „Kurpfälzer Nationaltheater“ zu gründen - durch Fusion. Die Oper bliebe in Mannheim, Schauspiel gäbe es nur noch in Heidelberg. Doch dagegen erhebt sich starker Bürgerprotest, weshalb sich1950 die „Gesellschaft der Freunde des Nationaltheaters“ (heute Freunde und Förderer) gründet, die eine Tombola für den Theaterneubau organisiert. Der wird 1957 am Goetheplatz eröffnet, womit die Ära der Schauburg endet.
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