Mannheim. Diese kalten Herbstnächte am Hauptbahnhof, vor Kasernentoren und an Zäunen - sie sind unvergessen, auch zehn Jahre danach. Und immer denkt man: heftig! Und dann wird es doch noch heftiger. Denn die Menschenmassen, die da plötzlich auftauchen, wirken gewaltig. Die Kraftanstrengung von Stadt, ehrenamtlichen Helfern und Hilfsorganisationen müssen gewaltig sein, um sie zu bewältigen. Und nicht immer ist es erwünscht, dass die Presse das alles mitbekommt. Denn offiziell gilt, was Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt hat: „Wir schaffen das!“
Mannheim 2015 - da sind die Dramen, die sich anderswo auf der Welt abspielen, weit weg. In der Stadt wird heftig geplant und in der Kommunalpolitik diskutiert, was alles aus den ehemaligen Kasernenflächen werden kann. 2011 hatte die Auflösung der amerikanischen Garnison begonnen, 2015 verlassen die letzten US-Soldaten die Stadt. Flüchtlinge sind nur weit weg im Hafengebiet untergebracht, vom städtischen Leben kaum wahrgenommen.
Aber im Juli 2015 wird die ehemalige Highschool in Benjamin Franklin Village belegt. Erst ist von 600 Menschen die Rede, dann von über tausend. Es gibt gleich Krawall – angeblich, weil zu wenig Wasser ausgegeben wird. Oberbürgermeister Peter Kurz appelliert an das Land, „die jetzige Belegung nicht weiter zu steigern und die soziale Betreuung sicherzustellen“. Von wegen! Wenige Monate später hat Mannheim plötzlich 15.000 Menschen mehr - das ist mehr als die Einwohnerzahl von Feudenheim.
Verkauf leerstehender Kasernen an die Stadt gestoppt
Dabei rechnet die Stadt zu dem Zeitpunkt fest damit, die ganzen Kasernenflächen kaufen und neu entwickeln zu können. Daher dürfe die Unterbringung von Asylbewerbern auf Franklin „nur eine temporäre Lösung“ sein, mahnt Kurz im Juli. Ende August schlägt die Feudenheimer Bürgerinitiative „Gestaltet Spinelli“ vor, in der Kaserne am Wingertsbuckel Flüchtlinge unterzubringen – worauf die Stadt reserviert reagiert.
Schon ab Mitte September geht aber alles ganz schnell. Über Nacht müssen in Benjamin Franklin weitere 1500 Flüchtlinge untergebracht werden, doppelt so viele wie zuvor. Das Rote Kreuz wird ohne Vorbereitung plötzlich Träger einer „Bedarfsorientierten Erstaufnahmeeinrichtung“. Leere, von Strom- und Wassernetz abgeklemmte frühere Soldaten-Wohnblocks müssen völlig überstürzt hergerichtet, Feldbetten aufgeschlagen, eine Beleuchtung montiert, Dixi-Klos aufgestellt werden. Anfangs stehen ganze Reihen von Waschbecken im Freien, später kommen Duschcontainer.
Kurz darauf stoppt die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) alle Gespräche mit der Stadt über den Ankauf von Kasernengeländen. Wären die Verträge schon unterzeichnet, gar abgewickelt gewesen – wer weiß, wo das Land die Menschen untergebracht hätte? So wird Mannheim die Stadt, die den meisten Flüchtlingen in ganz Baden-Württemberg Quartier bietet.
Dafür werden über Wochen hinweg ständig Rotkreuzler, Mitglieder des Technischen Hilfswerks (THW) und der Freiwilligen Feuerwehr – vorwiegend nachts – eilig zusammengetrommelt, um noch mal und noch mal Feldbetten aufzuschlagen, Wasserrohre oder Scheinwerfer zu installieren, einen bislang leeren Kasernenblock nach dem anderen in Betrieb zu nehmen. Schnell sind Feldbetten und weiteres Material aufgebraucht, und immer wieder rufen sich übermüdete, ausgelaugte Helfer eher sarkastisch-frustriert den Satz „Wir schaffen das!“ zu. Medien sind als Zeugen dieser eiligen Einsätze nicht immer willkommen. Manches bekommt man nur durch Zufall und hinter Zäunen mit.
Ehrenamtliche Helfer heftig gefordert
Anders am Hauptbahnhof. Da wird das alte Postgelände, heute längst mit Wohnungen, Büros und einem Hotel bebaut, zum Drehkreuz für Flüchtlinge für ganz Süddeutschland erklärt. Los geht es am 22. September 2015. Am Abend vorher wird eilig eine Löschzugbesatzung der Berufsfeuerwehr in die leerstehenden, kalten Hallen beordert, um Bierbänke und Tische, die Eichbaum ganz kurzfristig und kostenlos zur Verfügung stellt, sowie eine Reihe Dixiklos und Scheinwerfer aufzubauen. Strom liefert ein Aggregat des Technischen Hilfswerks (THW). Dann rollen hier Nacht für Nacht, sogar an Weihnachten, Sonderzüge aus Freilassing an, mit Hunderten von Asylsuchenden – in manchen Nächten über 1200.
Von hier werden die Menschen mit Bussen auf Unterkünfte in ganz Baden-Württemberg, aber auch in Hessen, der Pfalz und dem Saarland verteilt - daher „Drehkreuz“. Hier darf, im Gegensatz zu vielen Kasernen, die Presse Ankunft und Weiterleitung der Menschen beobachten. Viele junge Männer sind es, manchmal auch Familien. Sie wirken müde, abgekämpft, apathisch, oft nur mit wenigen Tüten und Habseligkeiten. Polizisten, Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes und des Regierungspräsidiums versuchen, das Umsteigen in die Busse zu organisieren. Vier Mitglieder der Johanniter-Schnelleinsatzgruppe stehen mit Wasser und Keksen bereit; dazu kommen zwei Malteser; alles Ehrenamtliche, jede Nacht, und das über viele Monate hinweg – ein einzigartiger Kraftakt. Bis zu 50 Menschen sind mit dem „Drehkreuz“ beschäftigt. Pensionierte Polizisten werden reaktiviert, weil die Beamten das alles nicht mehr schaffen.
Anfang Oktober überschlagen sich die Ereignisse. Plötzlich reicht auch Benjamin Franklin nicht mehr. Wieder werden in einem nächtlichen Kraftakt von Ehrenamtlichen Kasernengebäude hergerichtet, nun in den Kasernen nördlich der Birkenauer Straße (Funari). „Helfer am Ende ihrer Kräfte“ titelt der „MM“. Beim Roten Kreuz sei man „an der Grenze der Belastbarkeit, bei vielen ist sie auch längst überschritten“, sagt der Kreisbereitschaftsleiter, und beim THW heißt es offen, das „Wir schaffen das“ habe „nicht mehr den besten Klang in den Ohren der THWler“.
Aber es geht weiter. Erst werden Lagerhallen der Feudenheimer Spinelli-Kaserne mit Menschen belegt (anfangs unter schlimmen Bedingungen), dann die Hammonds-Kaserne Seckenheim. Inzwischen helfen Firmen und Bundeswehr, weil THW und Freiwillige Feuerwehr es nicht mehr schaffen. Das Rote Kreuz beordert Helfer gar aus Calw und Schwäbisch Gmünd nach Mannheim.
„Die Dauerbelastung und -überlastung der Hilfskräfte ist nicht länger tragbar“, warnt Oberbürgermeister Kurz in einem offenen Brief Mitte Oktober und teilt zugleich mit, er habe sich mit Bund und Land geeinigt, „bis zu 12.000“ Flüchtlinge in Mannheim einzuquartieren. Im November wird die Zahl aber plötzlich nur ein „Richtwert“ – und mehrfach gar die 15.000 überschritten.
Baubeginn für Bundesgartenschau verzögert
Doch für diese deutlich gestiegene Einwohnerzahl muss der Rettungsdienst verstärkt werden, reicht die Feuerwehr nicht. Die an Flüchtlingsunterkünften vorbeiführenden Stadtbahnlinien sind ständig überfüllt, die Polizei ohnehin komplett überlastet, weil sie häufig mit meist mehr als einem Dutzend Streifenwagenbesatzungen gewalttätige Querelen zwischen Flüchtlingen verschiedener Nationen oder Religions-Richtungen schlichten muss. 200 Einsätze gibt es im Herbst in Unterkünften, darunter „mehrere Tumultlagen“, wie der zuständige Revierführer formuliert.
Zwischendurch schlägt der Personalrat des Jugendamtes Alarm, weil Personal bei der Betreuung minderjähriger Flüchtlinge fehlt. Und jede Nacht ist weiter Betrieb am „Drehkreuz“, wenn auch ab November an einer anderen Stelle des Postgeländes, weil beim vorderen Teil die Bebauung beginnt. Bei den Bürgern wächst die Angst vor Kriminalität, auch wenn dies eher subjektiv ist als durch Zahlen zu belegen. Im Januar kündigt die Polizei sogar an, eine eigene Wache direkt in Benjamin Franklin Village einzurichten.
Aber dazu kommt es nicht mehr. Die Zahl der Flüchtlinge sinkt drastisch. Am Drehkreuz ist ab Februar deutlich weniger Betrieb, Anfang April 2016 endet er. Die Kasernen Funari und Sullivan werden wieder geräumt, die Stadt darf sie doch kaufen. Erst 2018 schließt das Rote Kreuz die von ihm betriebene Flüchtlingsunterkunft auf Franklin. Noch bis März 2020 sind die ehemaligen Spinelli-Kasernenblocks und auch Lagerhallen mit tausenden von Flüchtlingen belegt. Das verzögert gewaltig den Beginn der Bauarbeiten für die Bundesgartenschau, der daher nur drei Jahre Bauzeit bleiben.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Mannheim und der Herbst 2015: Vieles geschafft, manches bleibt schwierig