Mannheim. Eva Boden ist 90 Jahre alt, aber auch wenn sie ein bisschen, aber nur ein bisschen gestützt werden muss – sie will sich unbedingt herunterbeugen und ganz genau sehen, was da im Pflaster vor R6,4 liegt. Auf glänzenden Messingplatten steht ihr Name und der ihrer Eltern Arthur und Florentine Herz. Mit ihnen ist sie vor 85 Jahren, wie viele badische und pfälzische Juden am 20. Oktober 1940, von den Nationalsozialisten aus ihrem Haus geholt und in das Lager Gurs deportiert worden. Nur sie hat überlebt und findet es jetzt „erstaunlich, außergewöhnlich“, dass mit Stolpersteinen an die ganze Familie erinnert wird.
„Keine Worte“ finde sie, sagt sie, denn ein paar Worte Deutsch kann sie noch. Aber dass hier die Namen ihrer Eltern stehen, das freut sie, denn so seien sie nicht vergessen, erklärt sie mal lachend und dann wieder mit Tränen in den Augen. Danke, immer wieder Danke oder Thank you sagt sie, der Stadt ebenso wie ihrer Familie, die sie begleitet hat. Denn mit ihr sind elf Kinder, Enkel und deren Partner eigens aus den USA angereist, um bei diesem Moment vor dem Haus, wo die Vorfahren gewohnt haben, bis sie verschleppt wurden, dabei zu sein.
Das Ehepaar Arthur (geboren 1894) und Florentine Herz (1901, geborene Ullmann) war im Oktober 1940 zusammen mit der damals fünf Jahre alten Tochter Eva (geboren 1935) nach Gurs deportiert worden. Die Eltern wurden 1942 in Auschwitz ermordet. Eva konnte 1941 vom jüdischen Kinderhilfswerk Œuvre de secours aux enfants (OSE) aus dem Lager gerettet und in ein Kinderheim in Aspet in Frankreich gebracht werden. Die Hilfsorganisation der amerikanischen Quäker ermöglichte ihr 1942 die Flucht in die USA, wo sie bei Verwandten aufwuchs und bis heute lebt.
Die ganze Familiengeschichte lässt ihre Tochter Leslie in bewegenden Worten Revue passieren. Mit 18 Jahren habe ihre Mutter ihre große Liebe gefunden, mit neunzehneinhalb Jahren geheiratet, lange ein glückliches Leben geführt und ihren Kindern wichtige Werte mitgegeben. Die Familie sei Mannheim dankbar, dass auf diese Weise an ihr Schicksal erinnert werde, sagt sie – und es möge dazu beitragen, dass man daraus lerne, in Deutschland wie in den USA. Immer wieder von Tränen unterbrochen spricht auch Sohn Scott Boden und zeigt sich erschüttert, was man seiner Mutter mit immerhin damals nur fünf Jahren angetan habe. Umso wichtiger sei der Kampf gegen das Vergessen, gegen Gewaltherrschaft.
Ein wichtiges Zeichen gegen das Vergessen in Mannheim
Darin werde die Stadt nicht nachlassen, verspricht Bürgermeister Thorsten Riehle den aus Amerika angereisten Gästen. Man werde alles tun, dass so etwas wie die nationalsozialistische Gewaltherrschaft „never again“ passiere, versichert er und sagt auch dem Arbeitskreis Stolpersteine weiter die Unterstützung der Stadtverwaltung zu. Die leistet etwa ein Team vom Stadtraumservice, das vor jeder Verlegung das Pflaster aufbricht, so Platz schafft, die Stolpersteine im Boden verlegt und sie fest einzementiert.
Die Stadt betrachte die Stolpersteine als „ganz, ganz wichtiges Zeichen“, betont Riehle und dankt den Angehörigen, dass sie dazu eigens aus den USA gekommen sind. Das sei umso bewundernswerter angesichts dessen, was Deutsche damals Eva Boden und ihren Eltern angetan hatten. Riehle äußert daher Respekt und Dank, auch im Namen der anwesenden Stadträte, darunter mit Heidrun Deborah Kämper die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Dass die Familie in das Land der Täter komme, „das bedeutet uns viel“.
Jedes Jahr am 20. Oktober gedenke die Stadtgesellschaft der Menschen, die 1940 von den Vertretern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus ihren Häusern geholt, auf öffentlichen Plätzen zusammengetrieben und dann in Zügen in das Lager Gurs in Südfrankreich gebracht worden seien. Zum Glück habe Eva zu den etwa 100 Kindern gehört, die aus dem Lager gerettet werden konnten, während die Eltern in Auschwitz ermordet wurden.
Stolpersteine
- Die Stolpersteine gehen auf den Künstler Gunter Demnig zurück , der damit an Opfer des Nationalsozialismus – Juden, Sinti und Roma, Widerstandskämpfer, Zwangssterilisierte und viele mehr – erinnert.
- Sie gelten als das weltweit größte dezentrale Mahnmal. Bisher sind in 27 europäischen Ländern 116.000 der kleinen Steine mit den auf Messingblech graviertem Namen sowie Lebensdaten und -orten verlegt.
- Seit 2007 werden Stolpersteine auch in Mannheim verlegt, bislang über 330 . Initiiert wurde das von einem Arbeitskreis unter Federführung der Naturfreunde, dem aber viele weitere Organisationen und Personen angehören. Das Marchivum unterstützt die Initiative. Die Finanzierung erfolgt über Spenden.
- Verlegt werden die Steine stets am letzten frei gewählten Wohnsitz oder der Wirkungsstätte der Menschen, die aus religiösen oder politischen Gründen, ethnischer Herkunft, sexueller Neigung, ihrer Behinderung verfolgt wurden. Diesmal wurden gezielt Stolpersteine für Juden verlegt, die von der Deportation 1940 betroffen waren .
Doch „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitiert der Bürgermeister aus dem Talmud, einem der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums. Genau deswegen würden am letzten selbst gewählten Wohnort der NS-Opfer Stolpersteine verlegt. „Damit behalten wir sie in Erinnerung, mitten in der Stadt, mitten im Leben“, so Riehle. Aus dieser Initiative des Künstlers Gunter Demnig, die allen Opfern – Juden, Sinti und Roma, Widerstandskämpfer, Zwangssterilisierte und viele mehr – gewidmet ist, sei inzwischen das weltweit größte dezentrale Mahnmal geworden. Und auch in Mannheim werde die Verlegung weitergehen. Das habe „die volle Unterstützung“ der Stadt, so Riehle.
Dass dazu immer mal wieder Angehörige der Opfer sogar von weit her anreisen, sei „sehr beeindruckend und berührend“, so Rolf Schönbrod vom überwiegend von den Naturfreunden getragenen, etwa ein Dutzend Aktive zählenden Arbeitskreis, der in Mannheim mit Unterstützung vom Marchivum und von Spendern diese kleinen Steine mit großer Bedeutung verlegt. Was in der NS-Gewaltherrschaft passiert sei, dürfe nicht vergessen werden. „Es ist unsere Verpflichtung, uns weiter einzusetzen für Demokratie, Frieden, für das Miteinander, das ist unser Auftrag“, so Schönbrod.
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