„2017 ging das im Freundinnenkreis los: Wir haben uns viel mit Liv Strömquists Buch ,Der Ursprung der Welt’ beschäftigt. Dort geht es um die Bedeutung der Vulva, auch im kulturhistorischen Kontext“, sagt die Heidelberger Künstlerin Wilde Vulven. Die 32-jährige tritt mit diesem Pseudonym in der Öffentlichkeit auf. Sie fertigt bunte und plüschige Modelle der Vulva und stellt sie aus. So wie jetzt im Queeren Zentrum in Mannheim.
Vulva außen auf die Jeans genäht
Im Gespräch mit der Redaktion erzählt sie, wie das eingangs genannte Buch sie und ihr Umfeld veränderte. „Wir haben gemerkt: Es gibt so viele Dinge, Erzählungen, die wir nicht kannten. Etwa aus der Mythologie: Da gibt es viele Darstellungen von Frauen, die ihren Rock hochheben und mit der Vulva so Hungersnöte, Teufel und Kriege abwenden.“
Über Sexualität und Geburt sprechen
Und da hätten sie sich gedacht: „Hey, wir nähen uns auch eine Vulva außen auf die Jeans!“ Die Reaktion war, „dass dann in unserem Umfeld total viel über die Vulva und die ganzen damit zusammenhängenden Themen gesprochen wurde.“
Und genau das ist das Ziel, dass die Künstlerin verfolgt. Denn es gebe „ganz viel Bedarf, darüber zu sprechen“, sagt sie. Vor allem über hinter der Vulva stehende Dinge - oft tabuisierte Themen wie Geburt oder Sexualität. Mit ihrer Kunst will Wilde Vulven daher eine Austausch-Plattform bieten und zugleich Türöffner sein.Schulbücher erst seit 2022 mit richtiger Darstellung
Das sei nötig, betont sie: „Erst letztes Jahr gab es die Änderung von Begrifflichkeiten und überhaupt richtige anatomische Darstellung in Schulbüchern.“ Hier bezieht sie sich auch auf die Debatte, dass das Wort Schamlippen und nicht Vulvalippen verwendet wurde. Dies aber drücke gerade Stigma, Tabu - eben Scham und Verstecken - und damit Negatives aus. „Das fand ich echt schockierend, so spät erst wurde das geändert“, sagt sie. Und auch, dass nicht nur in den Schulbüchern, sogar in den medizinischen Anatomiebüchern bis letztes Jahr etwa die Klitoris nicht vollständig dargestellt worden sei, findet sie schockierend. „Und das in unserer auf Wissenschaft basierenden Gesellschaft“, sagt die Künstlerin.
Schweizer Gynäkologe misst Körperteile aus
Beeindruckt hat sie indes die Erhebung des schweizerischen Gynäkologen Andreas Günthert vom Luzerner Kantonsspital aus dem Jahr 2017. Der hatte Vulven vermessen und eine große Anzahl an Frauen untersucht. Das Ergebnis: Es gibt kein „normal“ - denn alle waren sowas von unterschiedlich. Dass „überhaupt erstmal jemand dieses wichtige Körperteil vermessen und sich damit beschäftigt hat“, hat Wilde Vulven begeistert. Deshalb hat sie in der Ausstellung neben ihren Kunstwerken jetzt auf die Studie verwiesen - per QR-Codes neben den Kunstwerken. Die führen auch zu Lesematerial oder Dokus zum Thema Vulva.
Hebammenmangel angeprangert
Die Künstlerin verweist auf diesem Weg auf weitere gesellschaftliche Problematiken, die mit dem leider noch existierenden Tabu der Vulva zusammenhängen. Sie erläutert: „Über die Vulven aus Stoff findet sich ein plüschiger verspielter und nicht schockierender Zugang zu ganz vielen, auch politischen Thematiken, dahinter. Etwa dieser Hebammenmangel den wir haben, das finde ich so schockierend. Und das, obwohl die Hälfte der Bevölkerung mit Vulva ausgestattet ist… Und obwohl fast alle daraus geboren sind“, betont sie.
Termine für Ausstellung und Nähworkshops, Plüsch-Pädagogik und Elyas M'Barek
- Die Wilde Vulven-Ausstellung kann noch bis zum 2. April im Queeren Zentrum (G7, 14) besucht werden, immer zu den
- Öffnungszeiten des dortigen Cafés: Donnerstag bis Samstag, 18 bis 23 Uhr.
- Außerdem veranstaltet Wilde Vulven dort am 12. Februar (14 bis 18 Uhr) und am 5. März (14 bis 18 Uhr) Nähworkshops, in denen mit bunten Stoffen „eine eigene, empowernde Version der Vulva genäht wird“, heißt es vom Queeren Zentrum. Dort können sich die „Teilnehmenden austauschen, Erfahrungen und Wissen teilen“. Workshop-Kosten: 15 bis 25 Euro für das Material. Anmeldung unter contact@wildevulven.com
- Die Idee vom plüschigen Annähern an wichtige Themen wird in Mannheim schon länger in der Pädagogik genutzt: Bei Pro Familia etwa setzen Sozialpädagogen in der Stadt auf unkonventionelles Unterrichtsmaterial für Schüler. Dort gibt es Aufklärung mit handgenähter Klitoris, Stofftier-Gebärmutter und -Eierstöcken, bei der der weibliche Zyklus erklärt wird, oder ein Bakterium „Chlamydia“, das über Krankheit aufklärt. Die Feedback-Box, die damals bereitstand zeigte: Die Schüler warendurchweg begeistert vom Unterricht. "Ich fand es sehr interessant und informativ. Meine Mutter hat gesagt, es ist zu früh, aber ich fand es gut. Lieber zu früh mehr erfahren als zu spät. War mega cool", schrieb etwa eine Schülerin.
- Auch Schauspieler Elyas M'Barek hat sich zuletzt für seinen neuen Kinofilm auf ungewöhnliche Art mit dem Genitalien auseinandergesetzt. In "Liebesdings" trägt er als Filmstar Marvin Bosch einen Hut, der der Klitoris nachempfunden ist. "Ich weiß gar nicht, was daran so schlimm sein soll, einen Klitoris-Hut aufzuhaben", sagte M'Barek vor dem Filmstart. "Also ich hab schon mehrere Begegnungen in meinem Leben mit Klitorissen gehabt - ist das eigentlich der richtige Plural? Ich weiß nicht, warum Leute das als so einen Tabubruch ansehen. Es war sehr heiß da drin und ich konnte nichts sehen, aber das hat halt Spaß gemacht", so der 40-Jährige.
- Auch dem Schauspieler kann also wohl noch ein bisschen Aufklärung und Nachhilfe nicht schaden. Denn der Plural von Klitoris ist Klitorides. Die Klitoris ist ein rund zehn Zentimeter langer Organkomplex mit Schwellkörpern. Hier laufen Tausende Nerven zusammen. (see/dpa)
Problematik Genitalverstümmelung auf die Agenda holen
Es geht bei den QR-Code-Infoslots aber auch um Themen wie Genitalverstümmelung. Oder um operative Eingriffe, etwa die Verkleinerung der Vulvalippen. „Es geht um das Hinterfragen, woher kommt dieses Ideal der kleinen Vulvalippen, obwohl jede so einzigartig ist.“ Dabei spielten auch Pornografie und die dort gezeigten Ideale eine Rolle, sagt sie. Oder dass, weil sich so wenige mit der Vulva beschäftigten oder sie stigmatisierten, das auch gefährlich sein könne: Wenn zum Beispiel krankhafte Veränderungen aufgrund von Unwissenheit nicht erkannt werden könnten und so eben auch nicht behandelt.
Im Porno bitte in der "Idealform" und "übersexualisiert"
Im Fokus steht bei der Ausstellung zudem die Auseinandersetzung des Missstandes „dass die Vulva übersexualisiert wird und dadurch ein gesellschaftlicher Diskurs und Austausch über die wichtigen Themen, die dahinter liegen, kaum möglich ist“, so Wilde Vulven.
Rumgedruckst und dann schnell verdrückt
„Ich habe früher meine Modelle viel auf Kunst-Märkten verkauft“, sagt die Künstlerin. „Da war es oft so, dass Leute am Stand waren und als sie dann gesehen haben, um was es geht, haben sie gesagt: „Oh, was okay, ähm“, haben rumgedruckst oder sind schnell weitergegangen.“ Oft aber seien dort aber auch offene Gespräche entstanden: „Als da zum Beispiel eine Mutter und ihre Tochter waren, oder Paare, da hatten wir viele coole und offene Gespräche. Oder einmal war ein trans*Mann da, der sagte, dass er sich total gut abgeholt fühlte von meinem Konzept. Meine Perspektive ist eine queerfeministische, sie schließt etwa auch Menschen ein, die sich nicht zwangsläufig als Frau identifizieren“, erklärt sie.
Nähworkshop für eigenes Empowerment
Bei den bunten Nähworkshops nähen Teilnehmende indes ihre bunte eigene Stoffvulva. „Viel ist biografisch, viel persönlich, was bei den Vulvanähworkshops besprochen wird“, erklärt Wilde Vulven. „Aber die meiste Zeit bin ich damit beschäftigt die Techniken beizubringen“, sagt sie und lacht.
Die Nachfrage nach den Kursen ist groß: „Bei den Anfragen für die nächsten Workshops habe ich jetzt schon ewige Warteliste“ sagt sie und lacht wieder. „Ich merke, dass die Leute über die Workshops und auch über die Ausstellung einen Zugang finden“, sagt sie nach der "gelungenen Kunst-Vernissage" im Queeren Zentrum Mannheim, an der wie sie berichtet, rund 100 Leute teilnahmen.
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