Gesundheit

Seltenes Undine-Syndrom: Wie ein junger Mannheimer für seine Selbstbestimmung kämpft

Konrad Kapp aus Mannheim atmet nicht mehr, sobald er einschläft. Er hat das seltene Undine-Syndrom. Aber er fand für sich eine Lösung. Doch jetzt kommt ein neues Gesetz, das seine Freiheit gefährdet

Von 
Lea Seethaler
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Auf dem WG-Sofa: Einnicken ist für Konrad Kapp lebensgefährlich. Er organisiert seine nächtliche Heimbeatmung selbst. © Thomas Troester

Mannheim. Konrad Kapp aus Feudenheim ist auf den ersten Blick ein ganz normaler Typ. Er wohnt in einer WG und arbeitet im Kindergarten. Doch Kapp hat das Undine-Syndrom. Eine Krankheit, bei der er, sobald er einschläft, nicht mehr atmet.

Ein Bild von Kapp aus Kindertagen. Darüber die Auswertung der Nachtdaten. © Lea Seethaler

Rund eine Person pro Jahr kommt in Deutschland damit auf die Welt. Was die Krankheit für seinen Alltag bedeutet, will er dem „MM“ zeigen. Denn er hat sich mit der Krankheit arrangiert - und für sich eine Lösung gefunden. Mit seinen Eltern organisierte er Medizinstudenten als Nachtwachen, sogenannte ungelernte Fachkräfte. Sie kontrollieren nachts seine Beatmung. Er hat dafür ein Gewerbe angemeldet, sie angestellt. Bezahlt sie aus eigener Tasche. Im Jargon der Krankenkasse heißt das: Gezahlt aus dem „persönlichen Budget“. So kann er zu Hause leben, Privatsphäre haben.

Mit Mitte 20 ins Heim?

Doch nun kommt ein sperriges Wort, das droht, diese Freiheit zu zerstören: das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz. Es sieht vor, dass Beatmung nur in Spezialzentren mit ausgebildeten Fachkräften erfolgen darf. Also nicht durch Medizinstudenten. Das würde für Kapp bedeuten: Raus aus seiner Wohnung, rein in eine betreute Beatmungs-WG. Oder ins Heim.

"Dann kommt so ein Scheißgesetz raus"

„Was das für ihn heißt, können Sie sich bestimmt vorstellen“, sagt seine Mutter Eva Brandenbusch. Sie ist an diesem Tag gekommen und steht in seinem WG-Zimmer. Kapp schaut angespannt. An einem Schild hinter ihm, das er an seine Wand geklebt hat, prangt ein Schriftzug: „Kenne deine Grenzen, oder andere diktieren sie dir!“

Benannt nach der germanischen Nymphe Undine

  • Der Begriff „Undine-Syndrom“ geht auf eine germanische Legende zurück, in der die Nymphe Undine einen Fluch über ihren untreuen, irdischen Mann legte, der ihm die autonome Atmungskontrolle nahm, sodass er im Schlaf starb.
  • Das Undine-Syndrom ist eine seltene, angeborene Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der die „normale“ autonome Atmungskontrolle fehlt oder gestört ist. Schon kurzzeitiges Einnicken wird damit lebensgefährlich.
  • Durch die modernen Beatmungs- und Überwachungsmöglichkeiten im häuslichen Bereich können Undine-Patienten heute ein ausgefülltes und produktives Leben führen. So konnte in einer Studie bei 94 Undine-Kindern in Nordamerika gezeigt werden, dass 77,5 Prozent aller Kinder normale schulische Leistungen erbrachten.
  • Voraussetzung dafür ist eine möglichst frühzeitige Diagnose und die Versorgung und Schulung der Eltern und betreuenden Personen mit aktuellen Geräten und Informationen. Da die Diagnose und die Therapiemöglichkeiten dieses Krankheitsbildes erst relativ kurz bekannt sind und zur Verfügung stehen, sind die ältesten Undine-Patienten ungefähr Ende 30.
  • Der Verein „Selbsthilfegruppe Undine Syndrom“ wurde 2008 auf dem ersten deutschsprachigen Undine-Kongress in München gegründet, Vereinssitz ist Mannheim.
  • Das Ziel des Mannheimer Vereins sind die Aufklärung über das Krankheitsbild, Hilfe bei der Wahl der Beatmungsform, Vermittlung von Kontaktadressen und vieles mehr. Kontakt, viele weitere Informationen sowie Vernetzungsmöglichkeiten unter www.undine-syndrom.de 

Kapp spricht ruhig über seine Krankheit. Er antwortet eher auf Nachfragen, als proaktiv zu beschreiben. „Und wenn dann Leute, die keine Ahnung von meinem Alltag haben, entscheiden, kommt dabei so ein Scheißgesetz raus“, sagt er. Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass seine Stimme lauter wird. Doch er fängt sich wieder. Spricht ruhig weiter. Über Fakten seines Gendefekts, der dazu führt, dass im Schlaf das unterbewusste Atmen nicht funktioniert.

Fokus ist das Leben am Tag

Hat Kapp Angst, wenn es auf den Abend zugeht? Mag er eine Tageshälfte lieber als die andere? Wenn Kapp antwortet, merkt man, dass er der Krankheit keinen Raum geben will. Sein Fokus ist das Leben.

Sauerstoffsättigung weit unten

Seine Nachtwachen kennt er schon lange, sagt er dann. Teils seien Freundschaften daraus entstanden, so Brandenbusch. „Mit seinen Wachen von früher, als er noch klein war, haben wir immer noch Kontakt, waren zusammen im Urlaub“, erzählt sie. Die Wachen tragen eine große Verantwortung. Fällt der Sauerstoffgehalt im Blut ab, drehen sie die Versorgung hoch. Sie analysieren und werten aus. Aufzeichnungen und Statistiken liegen abgeheftet in einem Ordner auf Kapps Schreibtisch. Ganz oben die von letzter Nacht. Manchmal ist die Sauerstoffsättigungskurve weit unten.

Geforderte Fachkräfte gibt es nicht

Hat Kapp Angst vor dem Moment des Einschlafens? Er zuckt mit den Schultern. „Ich kenne es ja nicht anders“, sagt er. „Wir wünschen uns, dass Konrad in seiner gewohnten Umgebung sein kann“, sagt Brandenbusch. „Und dass weiter ungelernte Kräfte, also Medizinstudenten, ihn überwachen dürfen, und wir nicht auf ausgebildete Pflegekräfte angewiesen sind. Weil es die nicht gibt“, sagt sie mit Nachdruck.

Dieses Schild hat Kapp bei sich im Zimmer aufgehängt. © Lea Seethaler

Sie spricht den Fachkräftemangel explizit an. Und damit macht nicht nur sie einen Punkt. Denn offenbar, so ist es in vielen Fachmedien nachzulesen, laufen nicht nur Betroffene gegen das Gesetz Sturm, sondern auch ärztliche Fach- und Pflegegesellschaften.

Um 23 Uhr kommt an diesem Tag die Nachtwache. Schichtsystem. Kapp sagt: „Sie erhöht auch einfach die Flexibilität, die man als Privatperson hat. . .“ Denn er liebt nicht nur seinen Job als Erzieher, sondern auch seine Freunde zu treffen und feiern zu gehen, erzählt er.

Die Selbsthilfegruppe gibt Kraft

Kapp will die Funktion der Beatmungsgeräte demonstrieren. Zum Test schließt er sich an ein Überwachungsgerät an. Es meldet Ausschläge nach oben und nach unten, wenn Werte abweichen. Welches Gefühl löst das neue Gesetz in ihm aus? „Hilflosigkeit“, sagt er. „Wenn es dann wirklich in Kraft tritt, heißt das, dass man sich nur schwer dagegen wehren kann.“ Wenn er über seine Situation redet, geht am Messgerät immer fast zeitgleich, wenn er sich aufregt, ein Alarm an. Er nimmt es vom Finger.

„Aber man gewöhnt sich an seine Krankheit. Außerdem hilft der Austausch in unserer Selbsthilfegruppe in Mannheim.“ Gemeinsam haben sie auch eine WhatsApp-Gruppe mit Betroffenen aus Deutschland. „Man tauscht sich aus. Wir machen da echt viel - und vor allem: Man versteht sich.“

"Selbst Mediziner kennen Krankheit nicht"

Alle kennen die Situation, „wenn kein Mediziner etwas weiß, sobald man sagt, dass man das Undine-Syndrom hat“, sagt er. Er fährt fort: „Das ist so, wie wenn Sie mit einem gebrochenen Arm ins Krankenhaus gehen und erstmal dem Arzt erklären, was sie haben“, so Kapp. Aber dann strahlen seine Augen plötzlich. „Wir sind jetzt in München bei einer Spezialistin, die ist einfach nur klasse.“ Seine Mutter nickt. 

Ziel: Abrechnungsbetrug verhindern

Die Recherche zeigt indes: Der Weg des neuen Gesetzes war lang. Oft gab es ähnliche Proteste wie nun von Kapp. Auf den Weg brachte es Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Ein Ziel: Das Vermeiden von massivem Abrechnungsbetrug, der in der Heimbeatmung stattfand. Doch dieses Ziel stehe über der Selbstbestimmung des einzelnen Patienten, hieß es daraufhin schnell in einer Stellungnahme von Sozialverbänden. Die machten sogar Vorschläge für Änderungen.

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Aber sind diese Betroffenenstimmen in Berlin bekannt? Der „MM“ fragt beim Bundesgesundheitsministerium in Berlin nach. Gibt es Bestrebungen, diese Lücke im Gesetz mit Betroffenen zu evaluieren, nachzubessern? Ziel des Gesetzes war vor allem, „die Qualität der Versorgung zu verbessern“ sowie „Fehlanreize in der Intensivpflege zu beseitigen und die Selbstbestimmung der Betroffenen zu stärken“, antwortet eine Ministeriumssprecherin auf Anfrage.

Soweit dem Ministerium bekannt, betreffe die Frage, ob Krankenbeobachtung weiter „von angelernten Hilfskräften erbracht werden kann, in aller Regel Fälle der Inanspruchnahme im persönlichen Budget“, heißt es. Diese „soll nach dem klaren Willen des Gesetzgebers auch weiterhin ermöglicht werden“, so die Antwort der Sprecherin.

Mit Nachtwache ins Hotel

Auf Nachfrage nach der Petition der Sozialverbände antwortet das Ministerium: Vor einiger Zeit habe es nun sogar „diesbezüglich eine Klarstellung an den Gesamtverband aller Krankenkassen geschickt und auf diesen Punkt hingewiesen“. Per Schreiben sei der Verband durch das Ministerium „ebenfalls darum gebeten worden, bei den Mitgliedskassen auf die entsprechende Rechtsanwendung hinzuwirken“. Der Haken dieser Antwort: Wer das persönliche Budget nicht hat, fällt hier raus.

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Es ist nicht das erste Mal, dass am Gesetz nachgeschärft wird. Zuletzt, als unklar war, ob überhaupt genug Ärzte für die geplante Entwöhnung von Beatmung zur Verfügung stehen. „Entwöhnt werden kann er eh nicht, es ist ein Gendefekt“, sagt Brandenbusch und schüttelt den Kopf.

Sie und Kapp sind verunsichert von der Kommunikation und dem ganzen Hin und Her. Sollte es anders kommen, als das Ministerium in der aktuellen Antwort angibt, hat Kapps Mutter angekündigt, vor Gericht zu ziehen, falls er ins Heim muss.

Kapp wirkt etwas beruhigter, als er beim Vor-Ort-Termin erstmals hört, dass die Pflege wohl weiter durch ungelernte Fachkräfte möglich sei. Dann sprudelt es aus ihm heraus. Er erzählt, er sei vor kurzer Zeit das erste Mal allein in den Urlaub gefahren. Mit Nachtwache, versteht sich - die durch ein Kabel durch die Tür des Hotelzimmers sein Leben überwachte.

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

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