Medizin

Betroffene machen mit Trauergang auf die Krankheiten ME und CFS aufmerksam

Kaum jemand kann mit den Kürzeln ME und CFS etwas anfangen. Doch das Leid der Betroffenen ist groß. Um die Krankheiten sichtbar zu machen und die Politik aufzurütteln, gab es nun einen Trauergang durch die Mannheimer Innenstadt. Weshalb sich die Teilnehmenden schließlich am Ende auf den Paradeplatz gelegt haben

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Um auf Schicksale von Fatique-Betroffenen aufmerksam zu machen, legen sich Demonstranten am Paradeplatz auf den Boden. © Christoph Blüthner

Mannheim. „Ist heute Volkstrauertag?“, fragt ein älterer Mann verwundert seine Frau. Die zuckt mit den Schultern und liest halblaut einen Plakattext vor: „Wir trauern um verlorene Lebenszeit!“ Wie dem Seniorenpaar geht es am Samstagnachmittag vielen Menschen, die in Mannheims Innenstadt unterwegs sind. Mit den Kürzeln ME und CFS auf Transparenten können die wenigsten etwas anfangen. Und genau deshalb beteiligen sich Betroffene einer weitgehend unerforschten Multisystemerkrankung, die den Körper attackiert und Energie raubt, an einem „Trauergang“ durch die Planken.

Viele Schwerstbetroffene

ME und CFS - sie stehen für myalgische Enzephalomyelitis und Chronisches Fatigue-Syndrom. Der Selbsthilfe-Bundesverband dieser neuroimmunologischen Erkrankungsbilder nennt als typische Symptome: Erschöpfbarkeit (Fatigue), Schmerzen, Kreislaufprobleme, Konzentrationsstörungen sowie Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Was dies im Alltag bedeutet, davon erzählen Männer und Frauen, die trotz Schmuddelwetter zu dem „Trauergang“ gekommen sind, berührende Geschichten. Mitorganisatorin Charlotte Basaric-Steinhübl weiß um die mannigfachen Verläufe und unterschiedlichen Schweregrade. „Leider gibt es viele Schwerstbetroffene, die 24 Stunden am Tag in abgedunkelten Zimmern liegen, keine Geräusche ertragen, Schmerzen haben und gepflegt werden müssen.“ Sie berichtet von einer jungen Frau, deren Fähigkeit, äußere Reize zu verarbeiten, derart eingeschränkt ist, dass sogar die geliebte Katze ausquartiert werden musste - weil selbst das Geräusch des Schnurrens einen gefürchteten Crash im Sinne einer Symptomverschlechterung auslösen könnte.

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Solche Schwerstbetroffene sind üblicherweise unsichtbar. Und meist auch die betreuenden Familien. Bei dem „Trauergang“ ist das anders: Angehörige haben sich Schilder umgehängt, die von Einzelschicksalen künden: Beispielsweise von Klara, die 2017 erkrankte und heute, gerade mal 22 Jahre jung, ein Pflegefall ist. Auf einem anderen Plakat ist Anna zu sehen: Sie lacht in die Kamera - darunter steht „vor sechs Jahren“. Das aktuelle Foto zeigt eine Frau, der ihr Leiden ins Gesicht geschrieben ist.

Auch wenn die Mechanismen noch ungeklärt sind, die dafür sorgen, dass der Energiestoffwechsel zusammenbricht, das Immunsystem verrückt spielt, so stehen bestimmte Viren von Infekten, beispielsweise Herpes und Influenza, als „Übeltäter“ im Verdacht. Außerdem offenbart sich, dass zunehmend Menschen mit Post-Covid betroffen sind.

Jede Krankheitsgeschichte ist anders: Mutter und Oma eines 13-jährigen Jungen, der selbst nicht an der Aktion teilnehmen kann, schildern, dass der Bub trotz Impfung an Corona erkrankte. „Er ist nie mehr gesund geworden“, sagt die Mama und holt ein Foto hervor, das den Sohn im Rollstuhl zeigt.

Angereist ist die Heidelberger Diplom-Psychologin Bettina Grande, die sich intensiv mit dem Krankheitsbild beschäftigt. Sie weiß nur zu gut, dass Betroffene oftmals „völlig zu Unrecht“ in der Schublade „psychisch krank“ landen - manchmal auch als Simulanten abgetan werden. Leider hätten viele Hausärzte von ME und CFS kaum bis keine Ahnung. Und deshalb seien Medikamente, die zwar keine spezielle Zulassung besitzen, sich aber zur „Off Label“-Nutzung anböten, wenig bekannt. Nein, eine zielgerichtete Therapie gebe es bislang nicht, betont sie auf Nachfrage. Wichtig sei aber, dafür zu sorgen, dass noch verbleibende Restenergie richtig eingesetzt, dass keine überbelastende Reha verordnet werde.

Aktion auch in anderen Städten

„Psychopharmaka haben meine Erkrankung massiv verschlimmert“ , berichtet sichtlich aufgewühlt ein Mann jenseits 50, der nach eigener Schilderung aufgrund einer falschen Diagnose in die Psychiatrie kam. Mit einer Blasenentzündung habe bei ihr der körperliche Niedergang begonnen, erzählt wiederum eine Frau mittleren Alters. Erst viel später habe sie erfahren, dass ein Antibiotikum verordnet wurde, vor dessen Nebenwirkungen ein „Roter-Hand-Brief “ warnt.

Regen kann die knapp 100 Betroffenen beziehungsweise Angehörigen nicht abhalten, mit Plakaten durch die Planken zum Paradeplatz zu gehen. „Ich will mein Leben zurück“, lautet die Botschaft von Leonie. Auf einem anderen Poster heißt es: „Stell Dir vor, Du wirst krank und keiner hilft Dir“.

Dabei attackiert das rätselhafte Krankheitsgeschehen laut Schätzungen allein in Deutschland um die 500 000 Menschen. Auf dem Paradeplatz gibt es statt großer Worte eine beredte Szene: Wer kann, legt sich still auf eine mitgebrachte Decke - als Symbol dafür, dass die komplexe Erkrankung häufig in Bettlägerigkeit mündet.

„LiegendDemos“ sind in weiteren Städten geplant. Außerdem soll die Politik aufgerüttelt werden. Charlotte Basaric-Steinhübl hat mit dem Gesundheitsdezernat Kontakt aufgenommen. Sie habe das Glück, nur „leicht“ betroffen zu sein, was aber gleichwohl „extrem einschränkt“, sagt die Mannheimerin. Ihr Ziel: ME wie CFS und die unzähligen damit verknüpften Schicksale aus der Unsichtbarkeit holen.

Freie Autorin

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