Beim Besuch im Jugendhaus kam der entscheidende Hinweis. Ob denn „Das andere SchulZimmer“ (DaS) nichts für ihn wäre, wurde Michael gefragt. Er hatte zuvor die Schule ohne Abschluss verlassen, zwei Jahre als Küchenhilfe gearbeitet, keine wirkliche Perspektive. Michael, heute 23 Jahre alt, überlegte nicht lang, fragte beim DaS nach, besuchte dort im vergangenen Jahr die Sommerschule - und bekam einen festen Platz in der Waldhofstraße 142. „Jetzt will ich meinen Schulabschluss machen“, erzählt er im Gespräch mit dem „Mannheimer Morgen“. Erst Haupt-, dann Realschulabschluss - danach möchte er „etwas in Richtung Theater“ machen.
Viele Gründe für Schulabbruch
Michael hat gute Chancen, seine ersten beiden Ziele zu erreichen - wie 48 Schülerinnen und Schüler vor ihm. DaS kann seit seiner Gründung im Oktober 2018 eine Erfolgsquote von 96 Prozent vorweisen. Mit individuell auf die jeweiligen Jugendlichen zugeschnittenen Bildungsangeboten und nahezu einer Eins-zu-Eins-Betreuung durch das Lehrkräfte-Team bereitet DaS auf Haupt- und Realschulabschlüsse vor, die über eine Schulfremdenprüfung an Humboldt-Werkreal- oder Tulla-Realschule abgelegt werden.
„Das andere SchulZimmer“ – Konzept und Unterstützer
- „Das andere SchulZimmer“ (DaS) richtet sich seit Oktober 2018 an junge Menschen zwischen 15 und 27 Jahren, die aus dem Schulsystem herausgefallen sind.
- DaS bereitet auf verschiedene Schulabschlüsse über eine Schulfremdenprüfung an der Tulla-Realschule und der Humboldt-Werkrealschule vor.
- Ziel ist es, die jungen Menschen auf den höchstmöglichen Schulabschluss vorzubereiten – das kann in Einzelfällen auch Abitur sein – und ihnen einen erfolgreichen Berufseinstieg zu ermöglichen.
- Eigentlich liegt die Kapazität des DaS bei 20 Schülerinnen und Schülern, derzeit sind es allerdings 30. DaS reizt seine Möglichkeiten aus, so weit es geht. Denn es gibt eine lange Warteliste.
- Elf Jugendliche bereiten sich auf einen Realschul-, 15 auf einen Hauptschulabschluss vor, zwei streben das Abitur an, zwei kommen zur pädagogischen Betreuung.
- 32 Lehrkräfte unterstützen DaS, in aller Regel ehrenamtlich oder gegen eine kleine Aufwandsentschädigung. Zum Team gehören Studierende – insbesondere aus den Bereichen Lehramt und Soziale Arbeit –, Personen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen, Coaches sowie Lehrkräfte im Ruhestand oder vorm Referendariat.
- DaS erhielt bereits acht Auszeichnungen und Preise, angefangen im Oktober 2019 mit dem Primus-Preis der Stiftung Bildung und Gesellschaft über den Förderpenny 2019 und 2020, den Hidden Movers Award 2020, den Fuchs-Förderpreis im November 2021 und den Lions Kinder- und Jugendpreis 2022 bis zum ersten Platz beim Wettbewerb #zukunftsschaffer. Beim bundesweiten startsocial-Wettbewerb kam DaS unter die ersten sieben Preisträger.
- Vor wenigen Tagen erkannte der Bildungsausschuss des Gemeinderats DaS als „freien Träger der Jugendhilfe und der außerschulischen Jugendbildung“ an.
Ute Schnebel weiß, dass dieser Weg der schwierigere ist. In der Regel sei es einfacher, Abschlüsse innerhalb des regulären Systems zu erreichen, sagt die Geschäftsführerin von DaS: „Aber viele junge Menschen fallen aus diesem Schulsystem heraus.“ Gründe dafür gebe es viele. Drogenkonsum oder psychische Probleme könnten ebenso eine Rolle spielen wie Armut, fehlender Rückhalt im Elternhaus oder Schulangst - zum Beispiel wegen Mobbings oder wegen der Furcht vorm Versagen.
Der 16-Jährige Marin war krankheitsbedingt über ein halbes Jahr nicht in der Schule. „So lange, dass es keinen Sinn mehr gemacht hat“, erzählt er. Seine Mutter hat ihn zu DaS gebracht, „hier lässt es ist einfach entspannter und leichter lernen“. Seit ein paar Monaten ist Marin hier, möchte Haupt- und Realschulabschluss „und danach eventuell etwas Handwerkliches“ machen.
Alisha musste nach eigenen Worten eine „klinische Schulauszeit“ von drei Monaten am Stück nehmen. Die 18-Jährige schaffte es danach wegen ihrer Schmerzen kaum noch, „den ganzen Schultag durchzustehen“. Bekannte machten sie auf DaS aufmerksam, hier sei der Unterricht „definitiv kein Problem“, sagt sie. Alisha strebt jetzt zunächst Haupt- und Realschulabschluss an, danach möchte sie entweder Abitur machen oder denkt an eine Ausbildung als Bestatterin.
Großer Pool an Ehrenamtlichen
Fast zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler, so Geschäftsführerin Ute Schnebel, verlasse die Schule ohne Abschluss. Das sei „ein Problem, das durch alle Gesellschaftsschichten geht“. Nach ihrem Studium war Schnebel an der PH Heidelberg zuständig für Straßenkinder-Pädagogik. Erfahrungen mit diesem Thema sammelte sie vor 15 Jahren in Kolumbien und stellte fest: Kinder und Jugendliche „gehen nicht in die Schule, stattdessen kommt die Schule zu ihnen“. Für sie sei das so etwas wie eine „Initialzündung“ gewesen: „Mich hat angetrieben, dass es funktioniert. Dass man junge Menschen, die Schule zum Teil seit Jahren nicht mehr von innen gesehen haben, erreicht.“
Nach Zwischenstationen wollte sie eigenverantwortlich einen Beitrag leisten - und gründete vor knapp fünf Jahren DaS. Hauptamtlich zur Seite stehen ihr Koordinatorin Charlotte Scheriau und Sozialarbeiterin Anne-Kathrin Maier. Aber das Rückgrat des Schulzimmers bilden die vielen Ehrenamtlichen.
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Da ist zum Beispiel Derya Sahin. Bei DaS machte die Lehramtsstudentin ihr Pflichtpraktikum. „Nach drei Wochen war mir klar, dass ich hier weiter mache.“ Inzwischen ist sie seit zweieinhalb Jahren ein paar Stunden pro Woche Übungsleiterin für Englisch, Deutsch und Politik. Lena Lebert kennt Ute Schnebel privat und ist so 2022 zu DaS gekommen. Demnächst möchte sie mit ihrem Studium beginnen, entweder Soziale Arbeit oder Lehramt. DaS sei „eine gute Möglichkeit, Erfahrung zu sammeln mit Blick auf den Beruf“.
Ralf Kissel hat Politik und Geschichte studiert, ging danach aber in die Logistikbranche. Auch er kennt Ute Schnebel privat. Um bei DaS von Anfang an dabei sein zu können, „habe ich extra meinen Job zurückgefahren“. So könne er „brachliegendes Wissen aus dem Studium nutzen“, vor allem aber Jugendlichen „eine neue Lebensperspektive geben, die sie ohne Abschluss nicht hätten“.
Öffnungszeiten stark ausgedehnt
Sozialarbeiterin Anne-Kathrin Maier ist relativ neu im hauptamtlichen Team, schwerpunktmäßig für das im Januar gestartete dreijährige Projekt „My Life - My Future“, das von mehreren Stiftungen mitfinanziert wird. Grundgedanke: Die Unterstützung der Jugendlichen endet nicht mit dem erfolgreichen Schulabschluss, viele brauchen ebenso Hilfe auf ihrem weiteren Weg hin zu einem selbstbestimmten Leben. Ute Schnebel betont: „Unsere Tür steht immer offen. Alle wissen, dass sie immer vorbeikommen können.“
Nur Plätze gebe es leider nicht genug - dabei dehnte DaS zum Schuljahr 2021/22 die Öffnungszeiten massiv aus: von 15 bis 18 auf jetzt 10 bis 18 Uhr. Im letzten Schuljahr fragten 50 Interessenten an, 30 sind jetzt hier. Ute Schnebel: „Ich bekomme eigentlich täglich Anrufe, wir könnten etliche Schulzimmer füllen.“
Ausführliche Infos unter: das-andere-schulzimmer.de
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