Es gibt ein kluges, bewegendes Buch des französischen Autors Emmanuel Carrère. Auf 275 Seiten zeichnet er darin den V13, den Prozess um die Pariser Anschläge vom 13. November 2015 nach. Sein Werk ist eine Mischung aus Ich-Erzählung und Gerichtsreportage mit romanhaften Zügen. Darin schreibt er über den französischen „Jahrhundertprozess“. Und im Kleinen, zumindest für Mannheim, gilt das auch für das Verfahren am Oberlandesgericht in Stuttgart, das am Donnerstag begonnen hat.
Nach Messerattacke auf Mannheimer Marktplatz: Prozess wird in Stadtgeschichte eingehen
Der Prozess gegen den Afghanen Sulaiman A., der sich wegen Mordes, fünffachen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung verantworten muss, wird - wie die Tat am 31. Mai 2024 - in die Stadtgeschichte eingehen. Als Uniformierte den Angeklagten am Donnerstag, kurz vor 11 Uhr zur Anklagebank führen, wird es leise im Sitzungssaal 1 in Stuttgart-Stammheim, wo bereits viele große deutsche Hochsicherheitsverfahren verhandelt worden sind. Die Vorkehrungen sind auch an diesem Morgen hoch: Beobachter müssen durch Sicherheitsschleusen, sie werden abgetastet, müssen teilweise ihre Schuhe ausziehen. Handys und andere Kommunikationsmittel werden eingeschlossen. Neben regionalen und nationalen Medien beobachten auch einige wenige Korrespondenten internationaler Nachrichtenhäuser den Tag.
Über den 26-jährigen Angeklagten ist vieles berichtet worden. Sein Bild – zusammengepresste Lippen, ein Jagdmesser mit blutverschmierter Klinge in der Hand – ging um die Welt. Zu Prozessbeginn verschränkt er immer wieder die Arme vor der Brust, während die Blicke der Familie Laur auf ihm ruhen. Der Polizist Rouven Laur starb, als er in das Geschehen eingriff.
Messerattacke in Mannheim: Das eigentliche Tatgeschehen dauert nur 25 Sekunden
Bei Vorbereitungen zu einer Kundgebung des rechtspopulistischen Vereins „Bürgerbewegung Pax Europa“ soll Sulaiman A. den Chef des Vereins, Michael Stürzenberger, mit einem Messer angegriffen und mehrere Male auf diesen, Mitstreiter sowie herbeigeeilte Passanten eingestochen haben.
Das eigentliche Tatgeschehen dauerte nur 25 Sekunden. Akribisch rekonstruiert Bundesanwältin Verena Bauer in der Anklage Sekunde um Sekunde: Sie schildert, wie der Angeklagte mehrfach auf Stürzenberger einstach, um ihn zu töten. Während Stürzenberger auf dem Boden lag, sollen zwei weitere Mitglieder der „Bürgerbewegung Pax Europa“ ihm zu Hilfe geeilt sein. Beide soll Sulaiman A. ebenfalls angegriffen und verletzt haben.
Zwei herbeigeeilten Männern gelang es laut Anklage schließlich, den mutmaßlichen Täter zu fixieren. Doch er konnte sich befreien, weil ein weiterer Passant unvermittelt auf einen der beiden Männer einschlug, die Sulaiman A. festhielten – laut Anklage hielt er den Mann für einen Komplizen des Angreifers.
Schließlich führt sie aus, wie Rouven Laur versuchte, den Mann zu stoppen, der auf den Falschen einschlug. Dabei wandte er Sulaiman A. den Rücken zu, der von hinten auf den 29-Jährigen losging. Sulaiman A.s Messer traf Laur laut Anklage an der Schulter und am Kopf. Der Schuss eines Kollegen Laurs verhinderte weitere Angriffe.
Sulaiman A. habe seit 2013 als sunnitischer Muslim in Deutschland gelebt, sagt Bauer. Nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan im Sommer 2021 habe er begonnen, sich für deren Ideologie zu interessieren. Später soll er sich intensiv mit dem Islam auseinandergesetzt und sich peu à peu radikalisiert haben, während er Beiträge radikal-islamischer Gelehrter in sich aufsog. Schließlich sei er zur Überzeugung gelangt, dass es nicht nur legitim, sondern seine religiöse Pflicht sei, vermeintlich Ungläubige zu töten.
Die Eltern und Schwestern von Rouven Laur sowie der zum Prozessauftakt nicht anwesende Michael Stürzenberger und zwei andere Betroffene treten als Nebenkläger in dem Prozess auf. „Die Familie von Rouven Laur hat sich dazu entschieden, bei der Eröffnung des Verfahrens dabei zu sein. Sie tun es, weil Rouven selbst das nicht mehr tun kann“, sagte Rechtsanwalt Wolfram Schädler, der die Schwestern von Laur vertritt, wenige Tage vor Beginn der Verhandlung dieser Redaktion.
Rouven Laur – das Schicksal des getöteten Polizisten bewegt Menschen deutschlandweit
Der Tod Rouven Laurs hatte Menschen deutschlandweit bewegt. Bei jedem Besuch auf dem Marktplatz zeigt sich: Sein Schicksal ist in der Stadt bis heute unvergessen. Ein offizieller Vertreter der Stadt Mannheim ist beim Prozessauftakt jedoch nicht zugegen. Man werde sich über den Verlauf des Prozesses informieren lassen, hatte ein Sprecher im Vorfeld dieser Redaktion erklärt.
Weniger bekannt war bis Donnerstag, wie es den anderen Betroffenen der Messerattacke ergangen ist. Bundesanwältin Bauer spricht über die körperlichen Verletzungen, die sie erlitten haben: Stürzenberger trug eine sieben Zentimeter lange Schnittverletzung im Gesicht davon, eine Verletzung des Unterkiefers, eine Stichwunde in der vorderen Brustwand sowie zwei tiefe Schnittwunden im linken Oberschenkel. Die beiden Männer, die zur Hilfe eilten, wurden ebenfalls schwer verletzt: Einer erlitt eine potenziell lebensbedrohliche Stichverletzung im linken Unterbauch mit arterieller Blutung und eine Fraktur des Wadenbeins. Der andere eine Durchstichwunde im rechten Oberschenkel.
Der Mann, der die Faustschläge abbekam, und für einen zweiten Angreifer gehalten wurde, erlitt eine Stichverletzung im Bereich des oberen Rückens, wobei das linke Schulterblatt durchbohrt wurde. Außerdem trug er zwei Stichwunden im Gesäß davon. Der andere, der den Arm von Sulaiman A. fixierte und ihn aus eigener Kraft nicht mehr halten konnte, erlitt einen bis auf den Knochen reichenden tiefen Schnitt an der Außenseite des rechten Oberarms.
Sulaiman A., ein hagerer, fast zierlich wirkender Mann mit rotem Pullover, einer Brille und Vollbart, äußert sich am ersten Prozesstag nicht zu den Vorwürfen, er hat während des gesamten Ermittlungsverfahrens geschwiegen. Seine Verteidiger kündigen an, er werde am nächsten Verhandlungstag über seine Lebensgeschichte sprechen, zur Tat zunächst aber nicht.
Vorsitzender Richter mahnt: Regeln der Strafprozessordnung müssen gelten
So wenig Sulaiman A. am Donnerstag preisgibt, so sehr bleiben Worte des Vorsitzenden Richters hängen. Die Umstände des Verfahrens seien besonders, sagt Herbert Anderer. Es sei nicht alltäglich, dass dem Gericht Videos vorliegen, die eine Tat nahezu vollständig zeigen. Dennoch, mahnt er, müssten auch in diesem Fall Regeln der Strafprozessordnung und des Grundgesetzes gelten. Das Gericht müsse alle Fakten zusammentragen und herausarbeiten, um über die juristischen Folgen für den Angeklagten zu entscheiden.
Nur wenige Tage vor der Bundestagswahl hat der Prozess in einem aufgeheizten politischen Klima begonnen. Das Attentat hatte bundesweit eine Diskussion über Migration und Abschiebungen ausgelöst, die durch nachfolgende Anschläge befeuert wurde. In dieser Verhandlung aber dürfe das keine Rolle spielen, sagt Anderer. Stattdessen stehe allein Sulaiman A. im Fokus der Verhandlung, an deren Ende über dessen „individuelle Schuld“ entschieden werden müsse. Dafür werde das Gericht Aspekte beleuchten, die die Öffentlichkeit möglicherweise für weniger relevant halten könnte.
Andere hingegen, die manchen vielleicht wichtiger erscheinen, könnten lediglich gestreift werden, weil sie für die Schuldfrage von Sulaiman A. nicht relevant seien, sagt der Vorsitzende Richter. Das Gericht sei weder Parlamentarischer Kontrollausschuss noch Untersuchungsausschuss. „Wir sind Teil der dritten Gewalt – nicht mehr und nicht weniger“, erklärt Anderer und verweist auf das hohe Gut der Gewaltenteilung für einen Rechtsstaat.
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