Mannheim. Es muss irgendwann vor ein paar Monaten gewesen sein, da haben Melis Sekmen und die Grünen angefangen, sich fremd zu werden. Sie, die junge Bundestagsabgeordnete, die lange als Aushängeschild ihrer Partei in Mannheim galt, und die Grünen, die im Gemeinderat auch mit Sekmens Stimmen die zeitweise stärkste Fraktion stellten, haben immer weniger Gemeinsamkeiten gefunden – inhaltlich, personell und in der Art, wie Politik gemacht wird.
Wann dieser Prozess begonnen hat, lässt sich am Dienstag nicht exakt datieren. Da hat es – nach der Europa- und der Kommunalwahl – ein Fernseh-Interview gegeben, in dem Sekmen die Distanz zwischen ihr und der Partei hat erahnen lassen. Bereits zuvor hatte sie auch mit Äußerungen in der Debatte um ein neues Fußballstadion in Mannheim eine weitere konträre Meinung zu der ihres Kreisverbandes offenbart. Und auch wirtschaftspolitisch sollen ihre Positionen zuletzt teilweise auf Unmut gestoßen sein. „Die Grünen sind nicht mehr ihre politische Heimat gewesen“, sagt am Dienstag ein Mitglied des Kreisverbandes.
Wie überraschend kam Sekmens Entscheidung?
Am Abend zuvor hatte Melis Sekmen mit ihrem für die breite Öffentlichkeit doch überraschenden Wechsel zur CDU und in die Unionsfraktion im Bundestag mindestens kommunalpolitisch für einen Paukenschlag gesorgt. Der Kreisverband sei „enttäuscht“ von Sekmens Entscheidung – die sich parteiintern aber bereits länger „angedeutet“ hatte, sagt Ines Joneleit, eine der beiden Sprecherinnen. Ähnlich äußert sich eine der beiden Vorsitzenden der Gemeinderatsfraktion, Nina Wellenreuther. Sie hatte ihre Partei als Spitzenkandidatin in die Kommunalwahl geführt – und darin auch Unterstützung durch Sekmen erfahren. Noch am Wahltag, dem 9. Juni, hatte Sekmen in sozialen Medien geworben, „Liste 1“, also die Grünen, zu wählen, „weil es starke und kluge Frauen im nächsten Mannheimer Gemeinderat braucht“.
„Wir verlieren eine Bundestagsabgeordnete, die in Mannheim auch über einige Popularität verfügt“, sagt Wellenreuther am Dienstag. Sekmens Popularität im Kreisverband war zuletzt allerdings bestenfalls noch ausbaufähig. Auch schon in den vergangenen Monaten war immer wieder Kritik zu vernehmen gewesen: Ein schwaches bis fehlendes politisches Profil, die vergleichsweise schwache Öffentlichkeitsarbeit, zu wenige Reden im Bundestag und ein hoher Verschleiß an Mitarbeitern werden immer wieder als Kritikpunkte genannt. „Sie ist in Berlin noch nicht wirklich angekommen“, hört man. Andere kritisieren, Sekmen habe sich auch von der Parteibasis immer weiter entfernt.
Der Kreisverband soll wegen der Differenzen in letzter Zeit versucht haben, das Gespräch zu suchen, sagt Joneleit. Dazu ist es nicht mehr gekommen – auch weil Sekmens Entscheidung am Montag im politischen Berlin wohl früher an die Öffentlichkeit drang als geplant. Joneleit spricht von einem Treffen, das für die kommenden Wochen geplant gewesen sein soll.
Sekmen soll sich, das ist am Montag und Dienstag unisono zu hören, von der Partei „entfremdet“ haben, in der sie eine anfangs steile Karriere hingelegt hat. Seit 2011 war sie Mitglied, von 2011 bis 2014 Sprecherin der Grünen Jugend in Mannheim. 2014 wurde Sekmen Stadträtin. Nach der Kommunalwahl 2019, bei der die Studentin die meisten Stimmen geholt hatte, war sie mit Dirk Grunert Vorsitzende der damals größten Gemeinderatsfraktion. 2021 zog Sekmen über die Grünen-Liste in den Bundestag ein und gab als Folge im Februar 2022 ihr Mandat im Gemeinderat auf. Im Bundestag war die 30-Jährige zuletzt unter anderem Obfrau der Grünen im Wirtschaftsausschuss.
Im neuen Grundsatzprogramm der CDU finde sich Sekmen wieder
In einem Brief an die Mitglieder, der dem „Mannheimer Morgen“ vorliegt, schreibt Sekmen von einem „langen Abwägungsprozess“. Monatelang habe sie mit sich gerungen, ehe sie erkannt habe, „dass sich meine Vorstellung darüber, wie und mit welchem Stil Politik gemacht wird, weiterentwickelt hat“. Menschen sollten nach ihrem Tun, nicht nach ihrer Herkunft beurteilt werden. Menschen, die mehr arbeiten, sollten am Ende auch besser davon leben können. „Dafür brauchen wir eine Debattenkultur, die auch unbequeme Realitäten benennen kann und in dem Menschen für ihre Meinung oder ihre Sorgen nicht in Schubladen gesteckt werden.“ Diese Stimmen müssten aus einer „starken Mitte“ und nicht aus „extremen Rändern“ der Politik kommen. Im neuen Grundsatzprogramm der CDU finde sie sich wieder.
Konkreter wird Sekmen in dem Brief inhaltlich nicht. Auch am Dienstag äußert sie sich nicht, kündigt aber an, das in den nächsten Tagen zu tun. Am Nachmittag hat sie als Gast erstmals eine Sitzung ihrer neuen Fraktion besucht.
„Melis Sekmen hat sich sehr auf ihrem Mandat ausgeruht und ihren Job als Obfrau zunehmend vernachlässigt. Nun hat sie offenbar Angst, nicht mehr aufgestellt zu werden“, zitiert der „Tagesspiegel“ am Dienstag kritische Stimmen aus der Grünen-Bundestagsfraktion. Laut ZDF soll sie in der Fraktion „als schwierig“ gegolten haben. Auch aus Mannheim ist zu hören, dass sie für die Bundestagswahl nächstes Jahr keinesfalls als gesetzte Kandidatin galt. Zudem hätten die Differenzen der vergangenen Wochen Zweifel vor allem im linken Flügel des Kreisverbandes weiter verstärkt.
„Ich kann nicht nachvollziehen, was Melis Sekmen meint, wenn sie von extremen Rändern spricht“, sagt Joneleit. „Ich sehe nicht, dass wir als Grüne uns an extremen Rändern bewegen.“ Als basisdemokratische Partei pflege der Kreis eine „lebhafte Debattenkultur“.
Diskussion um Debattenkultur: „Aussagen sind problematisch“
Allerdings hatten auch die Stadträte Markus Sprengler und Olaf Kremer bei ihren Parteiaustritten vergangenes Jahr unter anderem Kommunikation und Integration kritisiert. „Natürlich hat man in der Kommunikation immer auch Luft nach oben und Verbesserungspotenzial, über das wir uns kritisch Gedanken machen müssen“, sagt Joneleit am Dienstag. „Ich nehme aber nicht wahr, dass wir Debatten untergraben oder dass wir Menschen und deren Meinungen nicht akzeptieren oder respektieren.“
Auch Wellenreuther sieht die Partei in der Mitte verankert. „Da sind Aussagen, wie sie Melis Sekmen getätigt hat, problematisch.“ Sekmen selbst habe ihren Austritt nicht transparent kommuniziert. „Sie hat es uns nicht angekündigt und hat kein Gespräch mit uns geführt, sondern hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt“, sagt Wellenreuther. „Wenn man eine vernünftige Debattenkultur etablieren will, muss das für beide Seiten gelten.“
Sekmen schreibt, sie sehe in dem Wechsel, der ihr nicht leichtgefallen sei, für sich einen Schritt nach vorn. „Ich blicke mit den Mannheimer Grünen auf erfolgreiche Jahre zurück, in denen wir gemeinsam viele Anträge im Gemeinderat geschrieben haben, viele Wahlkämpfe gemacht haben, um mehr Menschen für unsere gemeinsamen Ideen zu begeistern.“ Sie habe „tolle Menschen“ kennengelernt. „Ich gehe im Guten“, schreibt Sekmen und ahnt doch schon, dass „einige überrascht, vielleicht auch enttäuscht sein werden“, wie es heißt. „Lasst uns im Gespräch bleiben und gemeinsam daran arbeiten, unsere Stadt schöner und lebenswerter zu machen.“
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