Mannheim. Mannheim, ein Freitag Ende Mai. Der Marktplatz ist gut besucht. Menschen schlendern über den Platz, trinken in den umliegenden Restaurants Kaffee, kaufen in Geschäften ein, bummeln. Vor dem Brunnen bauen Mitglieder der Gruppe PAX Europa ihren Stand auf. Gleich werden sie hier eine Kundgebung abhalten, auf der sie den politischen Islam kritisieren, so wie sie es schon bei zahlreichen Gelegenheiten getan haben. Das prominenteste Gesicht der Gruppe, Michael Stürzenberger, wird auch dieses Mal emotional aufgeladene Diskussionen mit Muslimen führen, manche sagen: provozieren, die live gestreamt werden sollen. Ein erprobtes Format.
Es ist der 31. Mai 2024. Ein junger Mann schleicht um den Stand herum: Sulaiman A. Um 11.34 Uhr greift er mit einem Jagdmesser Stürzenberger an. Verletzt ihn schwer. Es kommt zum Kampf. Getümmel. Sulaiman A. sticht schließlich auf Rouven Laur ein. So schwer, dass der Polizist zwei Tage später seinen Verletzungen erliegt. Ganz Deutschland ist schockiert. Eine Tat wie aus dem Nichts. Oder doch nicht?
Während die Ermittlungen laufen, Zeugen befragt und Beweise gesichert werden, interessieren Steven Broschart andere Fragen: Wer hat im Internet wann vom Anschlag auf dem Marktplatz gewusst und sich dafür interessiert? Eine Arbeitshypothese nennt er das Vorgehen, Daten aus „üblichen Verdächtigen“ wie Deutschland, den Vereinigten Staaten oder Russland dahingehend zu prüfen.
Experte nach seiner Recherche zu Mannheim: „Das alles sind Hinweise, aber keine Beweise“
Broschart analysiert seit Jahren Daten im Internet. Zunächst selbstständig, später unterstützt er Ermittlungen unter anderem des Landeskriminalamts Hessen. Seit 2022 arbeitet Broschart mit dem ZDF zusammen, für das er nun auch zum Attentat auf dem Marktplatz recherchiert. Das, worauf die Ergebnisse der Recherche hindeuten, sorgt für einen Paukenschlag – mitten hinein in den Prozess gegen Sulaiman A. in Stuttgart-Stammheim. Broscharts Daten sollen zeigen, dass bereits in den Tagen vor dem Anschlag über Google Suchanfragen aus Russland verzeichnet worden seien, die sich über das Attentat informiert oder nach dem Namen des Täters gesucht haben sollen.
Die Frage, die sich aufdrängt: Könnte Sulaiman A. gezielt von außen beeinflusst worden sein – möglicherweise aus Russland?
Sulaiman A. hatte vor Gericht von OR erzählt, mit dem er über Telegram in Kontakt gestanden habe und der ihn zum Anschlag motiviert haben soll. OR soll ein islamischer Gelehrter sein, der ihn fasziniert habe. Viel mehr aber, etwa wer OR ist oder woher er stammt, sei ihm nicht bekannt.
Die Ergebnisse seiner Datenauswertung seien „sehr ungewöhnlich“ und würden eine „gewisse Auffälligkeit“ zeigen, sagt Broschart dieser Redaktion. Mehr als einmal schränkt er im Gespräch aber ein: „Das alles sind Hinweise, aber keine Beweise. Die Hinweise müssen erst auf ihre Validität überprüft werden.“ So kann es – vereinfacht gesagt – sein, dass ein Algorithmus bei generell wenigen Suchanfragen zu einem Thema mit Wahrscheinlichkeiten, nicht aber mit tatsächlichen Zahlen rechnet. „Datenrauschen“ nennt Broschart das. „Bei der Verwendung von Daten ist immer große Vorsicht geboten.“
Broschart greift auf Daten von Google Trends zurück. Ein Tool, das zeigt, wie häufig Begriffe über einen Zeitraum hinweg bei Google gesucht wurden. Es erlaubt, das Interesse an einem Thema geografisch und zeitlich zu analysieren, und hilft vor allem Marketingexperten, sehr viel größere Suchvolumina zu analysieren als es sie zum Attentat auf dem Marktplatz gibt.
Suchanfragen nach Sulaiman A. hat es laut Broschart bereits vor der Tat gegeben
Wegen der vergleichsweise geringen Menge an Anfragen zum Anschlag, vor allem vor der Tat, besteht die Gefahr, in dieses besagte Datenrauschen zu geraten. Deshalb müssten viele Daten und Suchanfragen verglichen und auf ihre Logik hin hinterfragt werden. „Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich nicht um ein Datenrauschen handelt, wächst, je mehr Querverbindungen man bei Anfragen zu einem Thema herstellen kann“, erklärt Broschart.
So soll es bereits vier Tage vor der Tat Suchanfragen nach einem Anschlag in Mannheim gegeben haben. Unter anderem soll der Name von Sulaiman A. gesucht worden sein, was für Broschart „sehr ungewöhnlich“ wäre. Auch der Name Stürzenberger wurde dem Analysten zufolge wahrscheinlich schon vor dem 31. Mai von Russland aus auffällig oft im Zusammenhang mit „Anschlag“ und „erstochen“ gesucht.
„Irgendwann kommt man an den Punkt, an dem man sich fragt, ob das noch Datenrauschen und Zufall sein kann“, sagt Broschart. Tatsächliche Beweise aber seien das nicht. Der Datenschutz in Deutschland erschwert eine weitergehende Überprüfung, etwa von IP-Adressen. Diese Kennung wird jedem Gerät zugewiesen, das das Internet nutzt, und macht es eindeutig identifizierbar.
Zum jetzigen Kenntnisstand, antwortet Broschart, bestünde theoretisch die Möglichkeit, etwa von Deutschland aus online zu gehen, den für die Suchanfrage genutzten Standort technisch aber nach Russland zu verlegen. So könnte man, beispielsweise aus politischen Gründen, falsche Fährten legen.
Die aber hält der Datenanalyst in diesem Fall für weniger realistisch, weil dafür eine übergreifende Koordination zu erwarten wäre. Nach Broscharts Einschätzung könnten es Mitwisser gewesen sein, die sich online über den Tathergang informieren wollten. Dafür könnten ihm zufolge auch Suchanfragen sprechen, die es für Webcams auf dem Marktplatz gegeben haben soll.
Am vergangenen Mittwoch forderte der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Stuttgart im Verfahren gegen Sulaiman A. Landeskriminalamt, Bundesanwaltschaft und gegebenenfalls Bundesnachrichtendienst auf, dem Gericht mitzuteilen, ob Erkenntnisse vorlägen, die Broscharts Rechercheerkenntnisse stützten. Die Kammer würde diese Erkenntnisse dann anfordern und für das Verfahren verwenden.
Sicherheitskreise äußern sich skeptisch
Die FAZ beruft sich nach Bekanntwerden der Recherche indes auf Informationen aus Sicherheitskreisen, nach denen Behörden von keiner Verbindung zum russischen Geheimdienst ausgehen. Demzufolge würden sich Google-Trends-Recherchen – darauf weist Broschart ja auch hin – „nicht für eine valide Analyse- und Auswertemethode“ eignen, zitiert die FAZ aus Sicherheitskreisen. So könnten Daten von Suchanfragen nicht immer exakt dargestellt werden und so unter anderem auch den Anschein erwecken, dass sie vor einem Ereignis gestellt worden seien – obwohl sie unmittelbar nach dem Ereignis gestellt wurden.
Eine vermeintliche Korrelation in Abfragen könnte außerdem nicht nur für Russland, sondern auch für andere Länder hergestellt werden können, zitiert die FAZ eine Einschätzung des Verfassungsschutzes. Zudem würden bei Trendanalysen nicht zwangsläufig exakte Begriffe, sondern auch nur Wortstämme untersucht werden.
Broschart hat seine Recherche den Behörden übergeben. „Wir sind jetzt an einem Punkt“, sagt er, an dem man entscheiden müsse, jenseits der Daten weiter zu ermitteln. „Die Daten können nie für sich allein stehen und erfordern weitere Untersuchungen.“ Das gelte auch für Besonderheiten, die er für die Taten in Aschaffenburg im Januar 2025 und in München im Februar 2025 festgestellt habe. Auch diese Anschläge sind im Vorfeld einer Wahl – der Bundestagswahl – passiert. Das Attentat in Mannheim fand kurz vor der Europawahl statt.
Ob es ähnliche Auffälligkeiten auch für die mutmaßliche Amokfahrt auf den Mannheimer Planken Anfang März dieses Jahres gegeben hat? Das könne er zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten, sagt Broschart.
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