Mannheim. Herr Kurz, im Herbst 2015 waren zeitweise bis zu 15.000 Geflüchtete in Mannheim untergebracht, hauptsächlich in den damals leeren Kasernen Franklin und Spinelli. Was ist die erste Erinnerung, die Ihnen aus diesem Herbst kommt?
Peter Kurz: Zum einen denke ich an die damalige Gefahr, dass uns wegen der Unterbringung alle Stadtentwicklungsplanungen und der Wohnungsbau aus der Hand geschlagen werden könnten. Wir wollten auf Franklin ja einen neuen Stadtteil entwickeln, für den schon Planungen vorlagen. Zum anderen denke ich natürlich an die sonstigen vielfältigen Herausforderungen. Als Stadt waren wir für die Unterbringung formal zwar nicht zuständig, sondern das Regierungspräsidium. Aber faktisch waren wir über die Feuerwehr, unsere Projektentwicklungsgesellschaft MWSP und natürlich über lokale Strukturen sehr gefordert. Die eindrücklichste Erfahrung war die Geschwindigkeit, in der das alles passiert ist. Und gleichzeitig, dass so viele Menschen gar nicht erst gefragt werden mussten, ob sie helfen. Sie haben Hilfe von sich aus angeboten. Das war so überwältigend, dass wir eigens eine Koordinationsstelle eingerichtet haben, um die zahlreichen Hilfsangebote zu kanalisieren.
Mannheim war damals zentrale Drehscheibe in Baden-Württemberg. Beteiligte von damals sprechen immer wieder vom immensen Druck, innerhalb kürzester Zeit eine Unterkunft bereitstellen zu müssen. Wo war die Stadt gefordert?
Kurz: Der Druck lastete auf allen. Das hatte sich über das ganze Jahr aufgebaut und durch das Öffnen der Grenze im September dann eine extreme Beschleunigung erfahren. Das haben wir damals auch kommuniziert und deutlich gemacht, was das für eine Anforderung für uns ist, aber auch strukturell für das Land. Praktisch waren auch die logistischen Anforderungen in Mannheim größer als von außen eingeschätzt. Bund und Land haben den Zustand der Kasernen zu positiv eingeschätzt. Viele dachten, da kann man einfach rein. Das war eine Fehlannahme: Die Gebäude standen über Jahre leer. Da haben Wasserleitungen nicht funktioniert, da war keine Heizung drin, von Brandschutz für eine Massenunterbringung in Wohnungen ganz zu schweigen. Um das alles haben wir uns vor Ort gekümmert, natürlich mit Unterstützung von Akteuren wie der MVV, der Feuerwehr oder dem Roten Kreuz, das dann später auch selbst Unterkünfte betrieben hat.
War Ihnen sofort klar, welches Ausmaß an Aufgaben auf die Stadtverwaltung zukommt?
Kurz: Nicht in allen Details, aber grundsätzlich schon. Wir haben gleich im September eine Taskforce eingerichtet. Wir hatten ja schon von 2012 an eine starke Zuwanderung von Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Mannheim und die Probleme dabei gegenüber dem Bund auch immer wieder benannt. Insofern waren wir schon in einer bestimmten Weise eingestellt. Die Tatsache, dass wir bereits eine hohe Zuwanderung hatten, war im Herbst 2015 auch ein entscheidendes Argument, für Mannheim gegenüber dem Land deutlich zu machen: Wir stehen für die Erstaufnahme zur Verfügung. Wir können Kasernenflächen stellen und schauen, dass die Menschen über Bildungs- und Freizeitangebote erste Integrationsschritte machen. Aber wir können keine Stadt für längerfristige Aufnahmen sein. Diese Position hatte das Land auch akzeptiert.
Es gab damals eine riesengroße Hilfswelle von Ehrenamtlichen. Die haben Kleider gespendet und Sprachkurse oder Spielnachmittage angeboten. Haben Sie mit dieser großen Welle von Solidarität gerechnet?
Kurz: Ich glaube, dass wir eine Atmosphäre der Selbstbegeisterung hatten mit dem Tenor: Wir schauen, dass wir das hinkriegen. Eine so bemerkenswerte Hilfe kann man nicht erwarten. Ohne diese Unterstützung wäre es zugleich so nicht gelungen. Wenn ich im Vergleich dazu auf unsere heutige Atmosphäre schaue, muss man wahrscheinlich sagen, dass man eine solche Dimension von Hilfe und Konzentration auf das Gelingen nicht mehr erwarten könnte. Wir hatten damals viele Fragen, für die wir Antworten oder Lösungen erst nach ein paar Tage anbieten konnten. Ich weiß nicht, wie das in der heutigen, viel mehr durch soziale Medien geprägten Atmosphäre und Polarisierung aufgenommen würde.
Von 2007 bis 2023 Mannheims Oberbürgermeister
- Peter Kurz wurde am 6. November 1962 in Mannheim geboren. 2007 wurde der SPD-Politiker als Nachfolger seines Parteikollegen Gerhard Widder im ersten Wahlgang zum Oberbürgermeister seiner Heimatstadt gewählt.
- Im Juli 2015 bestätigten ihn die Mannheimer in seinem Amt, er brauchte dazu aber einen zweiten Wahlgang. 2023 verzichtete Kurz auf eine erneute Kandidatur.
- Vor seiner Wahl zum Stadtoberhaupt war Peter Kurz, der schon als Schüler in die SPD eintrat, Bürgermeister für Bildung, Kultur und Sport, davor Fraktionschef der Sozialdemokraten im Gemeinderat. sma/seko
„Wir schaffen das“, hatte Angela Merkel gesagt. War die Aussage der Grund für diese von Ihnen beschriebene Selbstbegeisterung?
Kurz: Nein. Ich glaube, der Spirit war tatsächlich schon da. Es gibt ja aber mittlerweile auch die umgekehrte Interpretation – nämlich, dass die heftige Diskussion der vergangenen Jahre über Zuwanderung auf diesen Satz zurückzuführen sei. Das halte ich für unzutreffend. Das blendet aus, dass wir in den Jahren nach 2015 phasenweise eine deutliche Entspannung der Diskussion hatten. Ich will aber nicht verhehlen, dass mir damals ein Aspekt bei den Worten der Kanzlerin gefehlt hat.
Welcher?
Kurz: Die Dimension der Herausforderung klar zu benennen. Ich habe mich damals in meiner Haushaltsrede auf den Satz der Kanzlerin bezogen – aber auch betont, dass das alles nicht ohne Rückschläge, Belastungen und schwierige Situationen laufen wird. Und dass der ungeregelte Zustand an den Grenzen nicht einfach so fortgesetzt werden kann. Dass vielmehr internationale und nationale Politik dafür sorgen müssen, dass es eine geregelte Aufnahme und Verteilung in der EU gibt. Das habe ich als zentral erachtet – für die Akzeptanz, aber auch für die Bewältigung der Aufnahme. Genauso wie die Betonung von Werteorientierung. Von allen, denen wir helfen, müssen wir erwarten, dass sie sich zu unseren Grundwerten bekennen und dass das ein Teil der Integrationsangebote sein muss. Vor Ort haben wir das thematisiert: Im Oktober 2015 gab es eine Franklin-Woche, bei der es um Themen wie Toleranz, Grenzen, Werteorientierung und Gemeinschaftlichkeit ging. Wenn heute gesagt wird, der Blick auf die Flüchtlingsaufnahme im Herbst 2015 sei naiv gewesen, kann ich nur sagen: Für unsere lokale Diskussion stimmt das nicht. Ich hätte mir damals vom Bund gewünscht, dass er eine klare Strategie aufzeigt und mehr Hilfe für die Integration leistet. Das hätte es leichter gemacht, auch die Skeptiker zu erreichen.
Sie hatten es schon erwähnt: Bei all den Schwierigkeiten hatte Mannheim noch ein Problem: Dass man auf Franklin einen neuen Stadtteil entwickeln und Spinelli für eine Bundesgartenschau vorbereiten wollte. Wie sind Sie damals mit diesem Konflikt umgegangen? Helfen wollen und müssen, aber eigene Pläne nicht gefährden...
Kurz: Neben der Unterbringung hat diese Frage, wie wir unsere Pläne und damit letztlich die langfristige Entwicklung unserer Stadt sichern, mindestens genauso viel Raum eingenommen. Wir wollten auf Franklin einen Stadtteil mit 10.000 Einwohnern entwickeln. Es war klar, was das für den Wohnungsmarkt und Fragen wie der Mietpreisentwicklung bedeutet. Wir hatten damals weder die Grundstücke in unserem Besitz noch einen Bebauungsplan, aber schon einen Kreis von 16 Investoren mit abgestimmten, konkreten Plänen. Gleichzeitig haben Bund und Land die Kasernen für die Unterbringung gebraucht. Wir haben versucht, unterschiedlichste Menschen bei der Bundes- und Landesregierung zu sensibilisieren, dass großer Schaden droht. Wir haben gesagt: Wir sind bereit, Menschen in fünfstelligen Größenordnungen aufzunehmen. Aber ihr dürft unsere langfristigen Pläne nicht gefährden. Zwischendrin sah es so aus, als würde der Bund die Flächen nicht abgeben – den Stadtteil Franklin hätte es dann nicht gegeben. Am Ende konnten wir uns, weil wir mit den Planungen extrem schnell gewesen waren, glücklicherweise auf eine zeitliche Befristung bis Ende 2016 für die Unterbringung auf Franklin einigen.
Wir würden uns heute, aus unterschiedlichen Gründen, schwerer tun.
Vieles, über das wir bislang gesprochen haben – Schwierigkeiten bei der Unterbringung, Franklin-Pläne, Zusammenleben – hatten Sie am 14. Oktober in einem offenen Brief an die Bevölkerung thematisiert. Wie ist es dazu gekommen?
Kurz: Mir erschien es wichtig, die Gegenwart und die Zukunft zu beschreiben, dabei nicht zu beschönigen, sondern deutlich zu machen, wie groß die Herausforderungen sind und wie unsere Antworten darauf aussehen. Das schien mir wichtig für die Vertrauensbildung.
Sie haben im Brief Ängste angesprochen, die es bei manchen gab – etwa die um ein sicheres Zusammenleben. Was haben Sie gemacht, um für Sicherheit zu sorgen?
Kurz: Das war ein Thema. Insbesondere ist auch bei der Frage der Unterbringung selbst, wenn Tausende Menschen zusammen sind, Sicherheit eine Herausforderung. Ich erinnere mich, dass wir dort immer wieder entsprechende Unterstützung durch das Land einfordern mussten, und später bekommen haben. Nicht nur durch Security, sondern auch durch die Polizei. Unterm Strich muss man sagen: Obwohl wir – immer wieder mit Wechseln – bis zu 15.000 Menschen untergebracht haben, haben sich die Sorgen nicht realisiert. Das - zum Teil ehrenamtliche - Engagement in der Betreuung hat daran einen erheblichen Anteil.
Die Kommunen waren 2015 wie so oft von Bundes-und Weltpolitik getrieben und hatten wenig Entscheidungsspielraum. Würden Sie auf kommunaler Ebene heute trotzdem etwas anders machen als vor zehn Jahren?
Kurz : Wir würden heute wahrscheinlich einen noch stärkeren Fokus auf die Kommunikation setzen. Es gab den offenen Brief. Aber man stellt sich die Frage: Was hätte man noch weiter machen können? Es hat wichtige Veranstaltungsformate in allen Stadtteilen gegeben, meistens mit Mitarbeitern. Vielleicht hätte man die Formate prominenter besetzen müssen? Das ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Beim Krisenmanagement an sich haben wir als Kommune insgesamt aber sehr vieles richtig gemacht.
Waren Sie zufrieden mit dem Zusammenspiel von Bund und Kommunen damals?
Kurz: Das hätte besser sein können. Wir mussten im Prinzip immer nachlaufend über die Anforderungen reden. Das ist natürlich unbefriedigend. Das ist ja auch das, worüber jetzt in der Rückschau immer wieder gesprochen wird: Hätte sich der Bund um Themen wie Arbeitsmarktintegration, psychosoziale Betreuung oder Werteorientierung nicht deutlicher kümmern und auch finanzielle Mittel geben und rechtliche Regelungen setzen müssen.
Hat sich bei der Integration in den Arbeitsmarkt seither etwas verbessert?
Kurz: Ich finde nach wie vor, dass wir da strukturell nicht weit genug gehen. Auch wenn bei ukrainischen Geflüchteten einiges besser gemacht wurde und für sie der Weg in den Arbeitsmarkt leichter war als für andere Gruppen. Wir haben nach wie vor große Vorbehalte, eine Integrationsleistung positiv durch einen besseren Aufenthaltsstatus zu belohnen. Wenn jemand einen unsicheren Aufenthaltsstatus hat, kann er sich bei uns nicht durch eine gelungene Arbeitsmarktintegration absichern. So kommt es zu Fällen, über die alle den Kopf schütteln: Wenn etwa eine gut integrierte und dringend gebrauchte Pflegekraft abgeschoben wird. Das ist zugleich ein Signal an alle anderen: Wenn du keinen sicheren Status hast, ist es egal, wie du dich verhältst. Das ist völlig falsch.
Wenn sich der Herbst 2015 heute wiederholen würde, hat Mannheim keine Kasernen mehr und die gesellschaftliche Stimmung scheint auch anders: Könnten Mannheim und andere Kommunen diesen Herbst nochmal stemmen?
Kurz: Wir würden uns, aus unterschiedlichen Gründen, schwerer tun. Andererseits haben wir auch 2022 in kürzester Zeit aus der Ukraine noch einmal viele Menschen aufgenommen – wieder mit viel Engagement und Unterstützung. Ich würde deshalb sagen, wir wären immer noch handlungsfähig. Es bräuchte dafür aber noch deutlich mehr Unterstützung als damals vom Bund.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Mannheim und der Herbst 2015: Vieles geschafft, manches bleibt schwierig