Serie „Gesichter der Gewalt"

Mannheimer Präventionsexperte: Kinder schlagen seit der Krise schneller zu

Von 
Lea Seethaler
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Gewalt hat vielseitige Formen. Daher muss auch Prävention vielseitig sein, finden Akteure in Mannheim – und gründeten 2019 das Präventionsnetzwerk „PräventiVernetzt“ (Symbolbild). © ISTOCk

Mannheim. Joschi Kratzer wird schnell deutlich: „Die Kids haben verlernt, wo beim Raufen Grenzen sind. Da wird schon mal heftiger zugeschlagen, das Gespür ist einfach weg. Das stellen wir deutlich fest“, sagt er. „Aber wie sollen sie auch die Grenzen kennenlernen? Sich austesten? Sie haben sich ja in der Pandemie nie richtig gesehen!“, fügt er hinzu.

Kratzer ist Psychologe und Leiter des Schülerreferats der Katholischen Kirche in Mannheim. Er beschreibt die Folgen der Corona-Pandemie, so wie er sie in seinem Alltag mit den Schülern erlebt. „Zum sozialen Lernen gehört auch das Rangeln dazu", sagt er. Es sei eine Form von „spielerischer Gewalt“, die normal in der Entwicklung sei. Doch durch die Masken, die die Kinder tragen, „sehen sie die Reaktion des anderen einfach nicht.“ So wichtig die Masken auch seien - der Nachteil sei: Kinder und Jugendliche könnten einfach nicht mehr die Erfahrung machen: „Was tut weh, wo ist die Grenze.“ Diese Problematik habe sich laut Kratzer seit Corona „deutlich verschärft“.

Über das Netzwerk "PräventiVernetzt" und alle Angebote

  • PräventiVernetzt ist ein Netzwerk aus der Mannheimer Stadtgesellschaft für die Mannheimer Stadtgesellschaft. Es bietet eine Plattform für Begegnung, fachlichen Austausch und trägerübergreifende Kooperation zu den Themen Prävention und soziales Lernen.
  • Ein Überblick über die Angebote gibt es unter https://cutt.ly/2Ijftpm
  • Ziel ist es, die Angebote zu Prävention und sozialem Lernen für Kinder und Jugendliche in der Stadt Mannheim sichtbarer zu machen. Dazu werden Aktionen koordiniert, Ressourcen gebündelt und Fachwissen dabei vergrößert. Zudem wird auf aktuelle Themen reagiert. Man möchte junge Menschen aus Mannheim erreichen und vorwärts bringen. Daher arbeite man an Orten des täglichen Lebens von Kindern und Jugendlichen, wie zum Beispiel Schulen und Jugendhäusern in der Stadt, so die Organisatoren.
  • Das Netzwerk ist offen für nicht kommerzielle Anbieter aus den Bereichen Prävention und soziales Lernen für Kinder und Jugendliche in der Quadratestadt. Es orientiert sich am Leitbild „Mannheim 2030“. Und somit an den globalen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. see

Per Krise verlagerten sich auch die Gewaltformen: Von Klassenzimmer und Schulhof rein ins Digitale. Eine Rolle spielt zunehmend Online-Gewalt. Zum Beispiel Cybermobbing. Schon seit einiger Zeit erfährt diese Gewaltart einen Zuwachs. Das zeigen aktuelle Studien, zuletzt eine Studie der Techniker Krankenkasse. Sie verzeichnete einen Anstieg um fünf Prozentpunkte bei den Betroffenen im Gegensatz zu Zeiten vor der Pandemie.

"Fokus liegt auf Prävention"

Um die vielfältigen Formen von Gewalt erst gar nicht entstehen zu lassen, gründete sich 2019 in Mannheim das Netzwerk „PräventiVernetzt“ . In einem Video-Gespräch erläutern Akteure des Netzwerks dessen Ziele - und wie es entstand.

Yvonne di Natale vom Mannheimer Jugend- und Gesundheitsamt beschreibt: „Es geht darum, Selbstkompetenz zu lernen. Und mit Hilflosigkeit umzugehen. Zum Beispiel, wenn die Sprache aufhört und da Gewalt anfängt. Hier wollen wir ansetzen. Wir wollen auch darüber sprechen, dass diese Selbstüberforderung, dieses sich übermannt zu fühlen, legitim ist. Aber dass die Lösung dann eben nicht Gewalt heißt. Sondern sich zu artikulieren.“

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Vom Begriff „Gewalt“ hat das Netzwerk bewusst Abstand genommen, was seinen Namen angeht. Der Begriff sei mit Stigma und Vorurteilen belegt, er schrecke ab. Anja Kasputtis vom Jugend- und Gesundheitsamt sagt: „Wir wollten eine neue Konnotation geben, wollen weg vom Begriff Gewalt. Denn unser Fokus liegt auf etwas Positivem, der Fokus liegt auf Prävention."

Wie wichtig über Gewalt ohne Stigma zu sprechen ist, ergänzt Joschi Kratzer: „Es ist wichtig, den Kindern beizubringen, dass auch sie hinschauen müssen. Es ist wichtig, Gewalt zum Thema zu machen. Wir erreichen eine gewaltfreie Gesellschaft nur, wenn wir uns einmischen. Und das Einschreiten bei Gewalt müsste oft schon viel früher passieren.“Kommt es etwa zu einem blöden Kommentar in der Klasse, also verbaler Gewalt, könne man als Mitschüler sagen: „Muss das jetzt sein?“ Kratzer sagt: „In dem Moment, in dem du redest, hast du die Gewaltspirale schon oft schnell abgebrochen.“

Gewalt ist immer etwas anderes

Bei „PräventiVernetzt“ gibt es zahlreiche Projekte von verschiedensten Akteuren (Übersicht siehe Link Infobox). Von Vereinen, der Polizei, dem Haus des Jugendrechts oder von Beratungsstellen -  für Schulen oder Jugendhäuser und viele mehr. Es geht etwa um kulturelle Teilhabe. Und um das Fördern von Gleichberechtigung. Um Antirassismusarbeit. Um selbstbestimmte Sexualität, Freiheit, Toleranz und Akzeptanz. Wo Potenzial für Reibung in der Gesellschaft da ist, setzt es an, könnte man sagen. Daher liegt auch ein besonderer Schwerpunkt auf der Prävention von (Cyber-)Mobbing, dem Fördern des Demokratieverständnis und der Vermittlung von Konfliktlösestrategien. Etwa Streitschlichterkurse.

Joschi Kratzer hatte nach einem seiner Streitschlichtertrainings von einem Schüler folgendes Feedback bekommen: „Durch die Streitschlichtung habe ich gelernt, dass es immer verschiedene Blickwinkel gibt und man JEDEM zuhören muss“ schrieb damals Teilnehmer Dominik auf, so Kratzer.

Doch damit jeder jedem zuhören kann, muss man erstmal miteinander reden. Douglas Zöller ist Lehrer in Mannheim und sagt: Seit der Pandemie beobachte er, die Mädchen würden „noch stiller“, während die Jungs schnell an „Reibungspunkten“ seien. Man müsse nun erst recht am sozialen Zusammenhalt arbeiten. Auch er hat gute Erfahrungen mit den „PräventiVernetzt“-Trainings gemacht. Sie seien wirksam. Davon zeuge, was ihm seine Schülerin Henriette schrieb, nachdem sie gar nicht mehr bei ihm auf der Schule war: „Nach jeden Ferien wurden wir von Herrn Zöller vor dem Klassenraum in Kleingruppen oder Zweierteams aufgeteilt, um über unsere Erlebnisse zu sprechen. Die Aufteilung erfolgte zufällig (...) was verhindert hat, dass sich die üblichen Freundesgruppen zusammenfinden. So hat jeder mal mit jedem gesprochen (...).

Diese kleinen Unterhaltungen haben aber dazu geführt, dass man völlig andere Blickwinkel auf seine Klassenkameraden erhalten hat, zum einen weil man sich mit der Person generell nicht unterhalten hätte (...). Auf diese Art wurde der Zusammenhalt der Klasse gestärkt. Das hat natürlich auch dazu geführt, dass innerhalb der Klasse die Anzahl der Konflikte reduziert wurden und damit auch das Auftreten von Gewalt jeglicher Form, sei es psychisch oder physisch, vermindert wurde. Auch wenn ich den Grund als ich jünger war nicht verstanden habe, ist dadurch eine bessere Klassengemeinschaft und eine gewaltfreie Klasse mit Mehrwert entstanden.“

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

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