Mannheim. Darf man Vertreter der proisraelischen Szene in Mannheim als „Genozidunterstützer“ und „ekelhaft“ bezeichnen? Mit dieser Frage hat sich am Donnerstag das Amtsgericht beschäftigt. Angeklagt war Yannik M., ein zentraler Akteur des propalästinensischen Demonstrationsgeschehens in Mannheim und der Region. Am Rande einer Gerichtsverhandlung mit Bezug zum Themenkomplex Palästina soll M. als Beobachter im September 2024 die mit einer Kippa bekleideten und die Verhandlung ebenfalls beobachtenden Benjamin S. und den Kantor der Jüdischen Gemeinde, Amnon Seelig, mit diesen Worten beleidigt haben, heißt es in der Anklage.
Über mehrere Wochen hatten zuletzt die propalästinensischen Gruppen Free Palestine Mannheim und das vom Verfassungsschutz beobachtete Zaytouna Rhein-Neckar-Kreis über soziale Medien dazu aufgerufen, die Verhandlung im Amtsgericht zu begleiten und Yannik M. zu unterstützen. Der – allerdings auch kleine – Saal 32 des Amtsgerichts ist dann am Vormittag auch voll. Stühle müssen noch dazugestellt werden, im Zuschauerraum setzen sich propalästinensische Aktivisten auf die eine und proisraelische auf die andere Seite. Vor dem Gebäude gibt es ein Zelt mit Palästina-Fahnen. Nach Eindruck der Reporter vor Ort verläuft der Verhandlungstag aber ruhig.
Angeklagter engagiert sich seit dem Studium für Palästina
Im Saal räumt M. die Tat ein. Trotzdem sei er „verwundert, hier zu sitzen“, sagt der 31-Jährige. Er erzählt von seiner Kindheit, die er in einem „antifaschistischen und antirassistischen“ Elternhaus in Nürnberg verbracht habe. Schon früh sei er mit seinen Eltern auf Demonstrationen am 1. Mai gegangen, in der Schule habe er sich für ein NPD-Verbot und gegen Rassismus, Neonazis, und Antisemitismus, später in Fürth auch gegen Faschismus engagiert.
M. hat keinen familiären Bezug zu Palästina oder dem Nahen Osten, sondern hat während seines Geografie-Studiums in Heidelberg angefangen, sich mit der Palästina-Frage auseinanderzusetzen, erzählt er. „Für mich war klar, dass der Kampf gegen Antisemitismus ein Kampf für eine gerechte Welt und gegen Besatzung und Apartheid ist.“ M. kritisiert eine Aushöhlung des Rechtsstaats und der Meinungsfreiheit in Deutschland, wenn es um Palästina geht. Gleichzeitig darf er vor dem Amtsgericht seine Ausführungen ohne inhaltliche Gegenrede erörtern und über seinen Verteidiger auch zahlreiche Beweisanträge einbringen.
M. wirft Seelig und S. unter anderem vor, selbst rassistische Ressentiments gegen Arabischstämmige zu schüren. Außerdem würden sie palästinensische Opfer verhöhnen, das militärische Vorgehen Israels gutheißen sowie einen Genozid in Gaza nicht nur verharmlosen, sondern leugnen. Weil sich Seelig und S. bei Palästina-Demos häufig im Umfeld der Deutsch-Israelischen Gesellschaft bewegen, unterstützten sie den Genozid. Das täte schließlich die DIG insgesamt, was M. und sein Verteidiger mit mehreren Pressemitteilungen belegen wollen, die sie als Beweise einbringen. Seelig und S. „legitimieren das Abschlachten in Gaza“, sagt M. „Es ist richtig, dass ich sie so bezeichnet habe. Dazu stehe ich. Ich habe sie aber nicht so bezeichnet, weil sie Juden sind, sondern weil sie Israel unterstützen.“
Neben den Mitteilungen der DIG bringt die Verteidigung Beweisanträge ein, die sich auf Aussagen von Organisationen und Institutionen beziehen, die einen Genozid in Gaza entweder unterstellen, wie Amnesty International oder die UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, oder diesen für plausibel halten, wie der Internationale Strafgerichtshof. Dadurch, dass die DIG Israels Positionen stützt, unterstütze sie den Genozid. Somit sei der Begriff „Genozidunterstützer“ gegenüber Seelig und S. eine Tatsachenbehauptung und „ekelhaft“ eine Bewertung, die von der Meinungsfreiheit gedeckt sei, argumentiert die Verteidigung.
„Ich stehe am Rand, und muss nicht viel mehr machen, um beleidigt zu werden“
Seelig stellt in seiner Befragung klar, dass er gar kein Mitglied der DIG sei. An jenem Verhandlungstag im September vergangenen Jahres sei er hingegen durch seine Kippa deutlich als Jude erkennbar gewesen. Ein Schild der DIG habe er nicht getragen. Gegendemonstrationen zu propalästinensischen Demonstrationen besuche er häufig, weil dort Israel das Existenzrecht öffentlich und laut aberkannt werde. „Ich stehe am Rand, und muss nicht viel mehr machen, um beleidigt zu werden“, sagt Seelig.
Die Frage, ob die Meinungsfreiheit es in diesem Fall rechtfertigt, Menschen zu beleidigen, verneint die Staatsanwaltschaft schließlich in ihrem Plädoyer. Die Argumentation sei lediglich ein Versuch von M., sein Verhalten im Nachhinein zu rechtfertigen. M. habe Seelig und S. aufgrund ihrer Kippa der DIG zugeordnet, deren Ansichten er nicht teilt. Die beiden hätten M. allerdings keinen Anlass zu der herabwürdigenden Äußerung gegeben. M. habe „in der Formulierung danebengegriffen. Und zwar massiv“, kritisiert die Anklage.
Die Verteidigung entgegnet, „Kritik am jüdischen Staat ist kein Antisemitismus“. M. habe Seelig und S. als Unterstützer des Nationalstaats, nicht als Juden gesehen. „Er hatte eine Idee davon, wofür sie politisch stehen. Es darf im Meinungskampf kontrovers zugehen – das Persönlichkeitsrecht liegt in der Waagschale, die Meinungsfreiheit überwiegt aber.“
Richter: Angeklagter ist über das Ziel hinausgeschossen
Das sieht das Gericht anders. M. habe sich auf die Meinungsfreiheit berufen, weil Seelig und S. DIG-Ziele propagieren würden. Deren Teilnahme an propalästinensischen Gegendemonstrationen lasse aber eben keine Rückschlüsse auf deren Haltung zum israelischen Staat zu. „Anwesenheit bedeutet ja nicht, dass ich alle Ziele der Organisation billige“, erklärt der Richter. Genauso könnte man M. vorhalten, dass er bei seinem Engagement in der propalästinensischen Demonstrationsszene den 7. Oktober 2023 ausblende, als palästinensische Gruppen in Israel 1200 Menschen getötet und 250 entführt haben – aber „das wäre nicht zielführend“.
M. habe seine Meinung gesagt, sei aber über das Ziel hinausgeschossen, sagt der Richter. Er verurteilt M. wegen Beleidigung in zwei Tateinheiten zur Zahlung von 3600 Euro und legt ihm die Prozesskosten auf. „Eine Geldstrafe am unteren Rahmen. Die Meinungsfreiheit ist darin bereits eingepreist“, erklärt er. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Gleichzeitig könnte das Urteil Bedeutung haben. Schließlich ist der Vorwurf „Genozidunterstützer“ in Mannheim auch bei propalästinensischen Demonstrationen in Richtung möglicher Gegendemonstranten häufig zu hören.
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