Interview

Mannheimer Experte: „Junge Migranten brauchen auch Erfolgserlebnisse“

Franz Egle vom Deutsch-Türkischen Institut in Mannheim über Identitätskonflikte von jungen Migranten, was ihnen bei der Integration helfen könnte und wie man sie vor dem Einfluss von Extremisten schützen könnte

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Ilgin Seren Evisen
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Junge Migranten stehen oft zwischen zwei Welten. Auch beim Fußball-Länderspiel Deutschland-Türkei im November in Berlin (Bild) war für viele die Entscheidung schwer, wen sie anfeuern. © dpa

Mannheim. Knapp ein Jahr nach seiner Amtseinführung hatte Oberbürgermeister Christian Specht kürzlich im „MM“ über die Herausforderungen bei der Integration in einer Multikulti-Stadt gesprochen. Nicht nur die Messerattacke am Marktplatz polarisierte in letzter Zeit die Stadtgesellschaft. Der Vorstand des Deutsch-Türkischen Instituts für Arbeit und Bildung (DTI), Franz Egle, erklärt im Interview, wieso er dem Oberbürgermeister in vielen Aussagen zustimmt und erläutert, wieso die Bildungsarbeit bei Jugendlichen und Migranten wichtiger ist als je zuvor.

Herr Egle, der Oberbürgermeister hat gesagt, die Stadt dürfe sich bei der Integration Zugewanderter keinen Träumereien hingeben. Er betont, dass es zunehmend zu gesellschaftlichen Rissen und Polarisierungen kommt. Sie sind gut mit der deutsch-türkischen Community vernetzt. Stimmen Sie den Problembeschreibungen zu?

Franz Egle: In meiner Tätigkeit als geschäftsführender Vorstand des DTI sehe ich natürlich, dass es in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft schwieriger wird, Akteure zu erreichen. Auch dass immer mehr radikale Prediger oder salafistische Strömungen versuchen, über Social Media unsere Jugend zu vergiften, ist sowohl bekannt als auch bedrohlich.

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Herr Specht vertritt zudem die These, dass die Integration von Migranten der dritten und vierten Generation schwieriger ist, als wir dies bei der ersten und zweiten Generation erlebten. Stimmen Sie zu?

Egle: Es gibt in der Tat wissenschaftliche Hinweise, die diese These unterstützen. Im Gegensatz zur ersten und zweiten Generation kommt es bei der dritten und vierten Generation häufig zu Identitätskonflikten, da sie sich weder mit der Kultur des Herkunftslandes ihrer Eltern und Großeltern noch mit der deutschen Kultur vollkommen identifizieren können.

Also verlieren wir viele junge Menschen, weil sie sich beiden Kulturen nicht richtig zugehörig finden. Wie ließe sich das ändern?

Egle: Ein besonders gelungenes Beispiel für das Aufzeigen einer komplexen Identifikationsfindung ist der aktuelle Film von Merve Uslu-Ersoy, auf den Oberbürgermeister Specht verwiesen hat. Mit der Frage „Weißt du, wie es ist, ein Leben lang zu träumen?“ führt der Film in die Welt von Fehir Ceylan und Pakize Uslu ein, zwei Frauen, die im Zuge der „Gastarbeiter“-Migration in den 1960er Jahren aus der Türkei nach Deutschland kamen. Anhand ihrer Großmütter, Fehir und Pakize, gibt die Filmemacherin Merve Uslu-Ersoy Einblicke in ihre Vergangenheit und ermöglicht den Zuschauern, die emotionalen Auswirkungen ihrer Migration hautnah mitzuerleben.

Glauben Sie, dass wir die „verlorene Jugend“ über eine Art Erinnerungskultur gewinnen können?

Egle: Nicht nur. Wir benötigen verschiedene Handlungsansätze. Als DTI haben wir im Laufe der Jahre viele Erfahrungen mit der Demokratie- und Berufsbildungsarbeit gesammelt. Wir sehen den Unterstützungsbedarf bei diesen Generationen. Diese Kinder und Jugendlichen benötigen neben der angesprochenen positiv abgeschlossenen Phase der Identitätsbildung vor allem auch Erfolgserlebnisse. Denn Erfolg heilt. Diese Schlüsselmomente der Erfahrung von Selbstwirksamkeit können in verschiedenen Bereichen stattfinden, in der Kunst, im Film, in der Musik, aber insbesondere in der beruflichen Ausbildung.

Franz Egle und das DTI

Das Deutsch-Türkische Institut für Arbeit und Bildung e.V. (DTI) ist ein weltanschaulich und politisch neutraler Verein, der vor zwölf Jahren vom deutsch-türkischen Unternehmer Mustafa Baklan und Franz Egle gegründet wurde.

Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, die Verständigung von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu fördern. Konkret engagiert sich der Verein für die Demokratiebildung und die berufliche Orientierung von Jugendlichen.

Der Arbeitsmarkt- und Berufsforscher Egle ist Gründungspräsident der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) und zudem geschäftsführender Vorstand des DTI.

Haben Sie ein Projekt, mit dem Sie genau diese Erfolgserlebnisse unterstützen konnten?

Egle: Ja. „Ausbildung (k)ein Thema!“ (AkT). Ein Kooperationsprojekt mit der Johannes-Kepler-Gemeinschaftsschule und der Marie-Curie-Realschule. Erfolg lässt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Von den aktiv mitwirkenden Schülerinnen und Schülern haben 50 Prozent einen Ausbildungsvertrag erhalten, was bei dem multikulturellen Kreis der Teilnehmenden als großer Erfolg angesehen werden kann. Dass 63 Prozent das DTI-Angebot angenommen haben, ist unter diesen Voraussetzungen auch ein Erfolg. Und damit adressieren wir – wenn auch in bescheidenem Umfang – zwei Herausforderungen: Unternehmen der Region finden keine Ausbildungsplätze. Migrantische Jugendliche möchten – wie andere Jugendliche auch – Erfolgserlebnisse. Wir haben beide Seiten gematcht. Und es hat gut geklappt. Zu Beginn des Schuljahres haben 32 Schüler und Schülerinnen teilgenommen, im Projektverlauf blieben 20 aktiv. 13 davon haben wir zu Vorstellungsgesprächen bringen können, zehn zu einem Ausbildungsvertrag.

Klingt nach einem Erfolgsrezept, das sich noch ausbauen ließe.

Egle: Das sehen wir auch so. Und als erfahrene Projektverantwortliche wissen wir: Wenn ein Jugendlicher Erfolg hat, beruflich ankommt und seine Integration somit abgeschlossen ist, weil er sich als wertvoller Teil der Gesellschaft fühlt, dann wird er in seiner Peer-Gruppe zum „Role Model“. Durch eine Ausweitung dieses Projekts können wir immer mehr „Role Models“ in der Szene der migrantischen Jugendlichen platzieren. Das hat einen Schneeballeffekt. Und zudem finden unsere Unternehmen der Region Auszubildende. Besser geht’s kaum, oder?

Wie werden Sie nun mit dem Projekt weitermachen?

Egle: Leider ist die öffentliche Förderung zu Ende gegangen. Aktuell suchen wir händeringend nach einer Anschlussfinanzierung, insbesondere für ein erweitertes Modellprojekt, welches bei der Vermeidung von Schulabsentismus beginnt, mit betrieblichen Kurzerfahrungen („Lerninseln“) weitergeht und am Ende mit einem Ausbildungsplatz abschließt.

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Erleben Sie als DTI mit Ihren bekannten Zugängen zu migrantischen Jugendlichen der Region diese Herausforderung öfter?

Egle: Das DTI wird nach zehn Jahren intensiver und engagierter Arbeit inzwischen „institutionell“ von der Stadt Mannheim im Hinblick auf die Demokratiebildung von Jugendlichen gefördert. Bei der beruflichen Orientierung von Jugendlichen, die insbesondere mit Einschränkungen in der kognitiven Leistungsfähigkeit oder im sozialen Verhalten zu kämpfen haben, fehlt uns leider oft die finanzielle Förderung.

Wie erreichen wir diese Jugendlichen, wie schützen wir unsere Jugend vor diesen Strömungen und wie schützen wir zugleich unsere Lehrer, damit diese auch in migrantischen Klassen über den Nahost-Konflikt sprechen können, ohne Angst zu haben?

Egle: Ja, das multikulturelle Zusammenleben hat Risse bekommen, die sich in Mannheim mit dem Messerangriff auf dem Marktplatz noch verstärkt haben. Auf politischer Ebene ist der Gaza Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas ein gefährlicher Spaltpilz. Auch das demonstrative Zeigen des „Wolfsgrußes“ während der Fußball-Europameisterschaft kann zu einer Verbreitung rechtsextremer Botschaften beitragen. Ein umfassendes Lösungskonzept ist angesichts der Komplexität der Probleme kaum leistbar und noch schwieriger umzusetzen. Als DTI können wir hier auch nur sehr eingeschränkt und im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten aktiv werden. Bei der Zurückdrängung der Zuneigung von Jugendlichen zu extremislamistischen Aktionen kann eine verstärkte Kommunikation durch demokratische „Peer-Group-Vorbilder (Role Models)“ helfen. Jugendliche vor extremistischen Strömungen zu schützen, ist auch Aufgabe der Polizei, die durchaus verstärkt Aufklärung in den Schulen betreiben könnte. Umgekehrt sollten auch Jugendliche bei der Bekämpfung von Radikalisierung und Extremismus in den sozialen Netzen verstärkt einbezogen werden.

Gibt es weitere Ansätze, die Sie Bildungseinrichtungen und der Politik nahelegen?

Egle: Selbstverständlich. Ich empfehle allen, auch Nicht-Migranten, die Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz. Während jede monotheistische Religion ihr eigenes Gesetzbuch hat – die Tora für das Judentum, der Koran für den Islam und die Bibel für das Christentum – ist das Grundgesetz das grundlegende Gesetzbuch für die Zivilgesellschaft in Deutschland. Es legt die zentralen Werte, Prinzipien und Rechte fest, die das Zusammenleben in unserer demokratischen Gesellschaft regeln.

Oberbürgermeister Specht hat davon gesprochen, dass die organisierte Jugendarbeit schwieriger wird. Was ist Ihr Rat als Praktiker? Was ist zu tun, damit die Jugendarbeit „einfacher“ wird.

Egle: Ich denke, hier kommt dem neuen Migrationsbeirat eine wichtige Aufgabe zu, der verstärkt zu jugendrelevanten, interreligiösen Aktionen einladen kann. Als DTI führen wir aktuell Gespräche mit der Awo Mannheim. Wir planen jährlich stattfindende „Freizeit-Treffen von Menschen mit und ohne Migrationsbiografien“, um gegenseitig „Brücken der Sympathie“ aufzubauen. Ein guter Rat ist sicherlich, die zivilgesellschaftliche Vereinsarbeit verstärkt in den Dienst der Demokratie- und Berufsbildungsarbeit zu stellen und diese angemessen zu fördern.

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